Der vergessene Strand
ihr nicht verübeln. Sonst ist sie Fremden gegenüber nicht so, aber bei Ihnen …» Hilflos zuckte er mit den Schultern. «Na ja, Sie wissen ja, wie das ist.»
Nein, das wusste Amelie nicht, und das sagte sie ihm auch. Sie trat zurück an den Tresen und blickte ihn fragend an. «Wie ist es denn? Erklären Sie es mir, Mr. Rowles. Ich habe nämlich keine Ahnung, warum ich so behandelt werde. Vielleicht bilde ich mir das auch nur ein, keine Ahnung.»
Er starrte unbehaglich auf den Computerbildschirm, als könne seine Freecell-Partie ihm jetzt beistehen. «Hm», machte er. «Sie wissen schon, diese ganzen alten Geschichten. Da redet hier keiner gern drüber.»
«Oh.» Es hatte sich anscheinend herumgesprochen, woran sie arbeitete. «Aber das ist doch so lange her …»
«Für manche von uns eben nicht.» Er zuckte wieder mit den Schultern. Der Bildschirmschoner sprang an, und er bewegte die Maus ein Stück zur Seite. «Wir leben hier mit der Vergangenheit, verstehen Sie?»
So ganz verstand Amelie das nicht, aber sie nickte ernst. «Natürlich», log sie.
«Wär also besser, wenn Sie Bowden in Ruhe ließen. Der hat schon genug durchgemacht.»
«Klar.» Überhaupt nichts war klar. Wie konnte ihre Arbeit an der Geschichte zweier Frauen vor über hundert Jahren noch heute auf die Menschen wirken?
«Gut.» Er reichte ihr die Hand und wirkte erleichtert. «Machen Sie’s gut. Bleiben Sie noch lange?»
«Mein Verlobter kommt heute aus Deutschland. Wir werden wohl morgen abreisen.»
«Das ist gut!» Er nickte zufrieden. «Das wird meine Frau auch freuen.»
Amelie verließ die alte Mühle. Sie stellte die Reisetasche in den Kofferraum und blieb einen Moment noch stehen. Sie hörte das Meer, das in einiger Entfernung leise rauschte.
Mr. Rowles’ Worte waren irgendwie rätselhaft. Aber sie war nicht hier, um die Rätsel der Gegenwart zu lösen. Der Vergangenheit galt ihr Interesse.
Manchmal konnte sie nachts nicht schlafen, weil sie vor Glück schier platzen wollte. Weil sie Angst hatte, es könnte irgendwann vorbei sein.
Dann saß sie im Bett und lauschte seinen Atemzügen, und sie konnte nicht fassen, dass ihr das hier beschieden war. Den Mann, den sie liebte, neben sich spüren zu dürfen die ganze Nacht. Am Morgen würde er sich nach einem üppigen Frühstück verabschieden, würde sie sanft küssen zum Abschied, ehe er aus dem Hotel schlich und heimging zu seiner Frau und den Kindern.
Eigentlich, dachte Anne, musste sie sich deswegen richtig schlecht fühlen. Sie nahm der anderen Frau den Mann, sie musste mit dem wenigen leben, was er ihr gab.
Aber sie war zu verliebt, um darüber nachzudenken, welche Konsequenzen diese Liebe haben würde.
Manchmal wachte er nachts auf, und dann kuschelte er sich an sie. Er schlief nackt, und allein das war so schamlos und völlig jenseits ihrer Vorstellung, dass sie es erst gar nicht hatte genießen können. Wenn er aufwachte, wenn er sie an sich zog, spürte sie meist auch kurz darauf seine Erregung, die gegen ihren Po drängte, und seine Hände fuhren über ihren Körper.
In einer dieser Nächte, als er sich auf sie schob und langsam in sie glitt, umklammerte sie seine Schultern.
«Was ist?», flüsterte er. Das dunkle Haar fiel ihm in die Stirn, seine Augen blitzten in der Dunkelheit. «Tue ich dir weh?»
Das war von Anfang an seine Sorge gewesen. Dass er ihr wehtun könnte.
«Nein», erwiderte sie ebenso leise. «Ich bin nur so glücklich, dass es schmerzt.»
Er küsste sie, und dann liebten sie sich mit einer Ruhe, die so anders war als jene wilden Vereinigungen bei Tageslicht oder wenn sie sich länger nicht hatten sehen können und völlig ausgehungert waren.
Er passte auf – zumindest behauptete er das immer –, und sie dachte, damit sei alles in bester Ordnung. Es könne ihr nichts passieren, solange sie ihm nur vertraute und selbst darauf achtete, sich nicht zu verraten.
Er passte auf, das hieß, dass er sie nicht schwängern wollte, obwohl sie sich kaum etwas sehnlicher wünschte als sein Kind.
Eines Abends kam er zu ihr und wirkte in sich gekehrt, beinahe still. Nichts war geblieben vom souveränen, weltgewandten Duke of G-, der alles im Griff hatte. Sie nahmen einen kleinen Imbiss zu sich, den die Köchin vorbereitet hatte, und danach saßen sie im kleinen Salon, und Anne las ihm Gedichte vor. An Abenden wie diesem war er sonst immer ganz bei ihr, doch heute schien ihn etwas anderes zu beschäftigen.
«Ist alles in Ordnung?», fragte
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