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Der vergessene Tempel

Der vergessene Tempel

Titel: Der vergessene Tempel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Harper
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so weiter. Als Archäologe konnte er so ziemlich überall umherstreifen, ohne Aufsehen zu erregen. Dass er am ersten Tag der Invasion ums Leben kam, war eine verdammte Schande – das hat uns um ein halbes Jahr zurückgeworfen.»
    «Wirklich jammerschade», pflichtete Reed Muir bei, mit einem schrägen Blick unter seinen schneeweißen Augenbrauen hervor. «Und jetzt sichten Sie also seine Fotografien?»
    «Dieses Bild haben wir nach dem Krieg in einem deutschen Archiv gefunden.»
    Reed kratzte sich am Hals, dort, wo ihn der Schal juckte. «Sie wollen doch nicht ernstlich andeuten …?»
    «Dass Pemberton ein Verräter war?» Muir stieß ein kurzes, freudloses Lachen aus. «Nein. Nach der Invasion auf der Insel haben die Deutschen in Pembertons Villa ihr Hauptquartier eingerichtet. Sie hatten also reichlich Gelegenheit, seine Sachen zu durchstöbern.»
    «Warum befand es sich dann …»
    «Das spielt keine Rolle.» Die zweite Zigarettenkippe folgte der ersten ins Feuer. Muir klappte sein Etui auf und griff reflexhaft nach einem weiteren Glimmstängel, riss sich dann zusammen und klappte den Deckel wieder zu. Mit den Fingern trommelte er ein rasches Stakkato auf das Elfenbein, das wie Maschinengewehrfeuer klang. «Ich will von Ihnen nur wissen, was auf diesem Bild zu sehen ist.»
    Reed griff wieder nach der Lupe und begutachtete das Foto ein weiteres Mal. «Spätminoisch vermutlich. Oder auch frühmykenisch …»
    «Auf Englisch?» Muirs Ungeduld gewann die Oberhand, wieder klappte das Zigarettenetui auf.
    «Sehr gerne. Das Tontäfelchen auf dem Foto datiert vermutlich aus dem vierzehnten Jahrhundert vor Christus und stammt aus Kreta oder Griechenland selbst. Nicht so alt wie die Pyramiden, aber noch vor dem Trojanischen Krieg.» Er lächelte. «Natürlich nur, falls Sie daran glauben, dass der tatsächlich stattgefunden hat.»
    «Es ist also griechisch und schon uralt. Was hat es mit der Schrift auf sich?»
    Reed seufzte und legte das Foto aus der Hand. «Kommen Sie mit.»
    Er kämpfte sich in seinen Mantel, stülpte sich eine fellgefütterte Mütze über den Kopf und führte Muir dann die Holztreppe hinunter, durch den Innenhof und hinaus durch das Hauptportal des Colleges. Fast hüfthoch türmten sich Barrieren aus zusammengeschaufeltem, schmutzigem Schnee am Straßenrand, und die wenigen Passanten, die auf den eisglatten Bürgersteigen unterwegs waren, duckten sich gegen den Wind, der die Turl Street entlangpfiff. Dächer ächzten unter ihrer Schneelast, und spitze Eiszapfen hingen von den Regenrinnen, während die Mauern des Colleges – die im Sommer so golden leuchteten – ebenso trostlos grau wie der Himmel wirkten.
    «Waren Sie hier?», fragte Reed, während sie die Broad Street überquerten, vorbei an den gotischen Türmchen des Balliol-Colleges, die mit ihren Hauben aus Schnee seltsam märchenhaft-verwunschen wirkten. «Als Student, meine ich?»
    «Ich war in Cambridge.»
    «Ah», sagte Reed mit einem Unterton aufrichtigen Mitgefühls. «Procul omen abesto.»
    Schweigend stapften sie weiter, an einem verschneiten Kirchhof vorbei und schließlich über eine Straße zum Ashmolean Museum, das mit seinem pompösen klassizistischen Säulenvorbau so gar nicht zwischen die mittelalterlich strengen Collegegebäude passen wollte. Auf ein Nicken Reeds hin ließ der Pförtner sie anstandslos passieren, und sie durchschritten die leeren Gänge bis zu einem düsteren, abgelegenen Raum. Es schien sich um eine Art Abstellkammer für den Krimskrams vergessener Kulturen zu handeln. Hier standen große, mit Staublaken abgedeckte Statuen, deren Marmorzehen unter dem Stoff hervorlugten; goldgerahmte Gemälde lehnten an den Wänden; und in die Ecken hatte man, wie unbenutzte Schulpulte, Ausstellungsvitrinen gerückt, deren Glas entfernt war. Bei den meisten zeugten nur noch dunkle Umrisse auf der hellen Unterlage von ihrem einstigen Inhalt, doch in einer Vitrine befanden sich noch einige Exponate. Reed ging hinüber und deutete hinein.
    Muir beugte sich über die Vitrine. Reed hatte auf ein Tontäfelchen gezeigt, geschwärzt vom Alter und von drei langen Rissen durchzogen. Die Kanten waren unbearbeitet, roh, doch die Oberfläche war glatt. In diese Fläche waren, kaum zu erkennen in dem düsteren Raum, Hunderte winziger, dünner Schriftzeichen geritzt.
    Reed schaltete das Licht an und reichte Muir die Lupe.
    «Was ist das?» Ausnahmsweise war seine Stimme einmal frei von dem ätzenden Unterton, der sonst so typisch für ihn

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