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Der vergessene Tempel

Der vergessene Tempel

Titel: Der vergessene Tempel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Harper
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war.
    «Entdeckt wurde sie – das heißt die Schrift – um das Jahr 1900. Sir Arthur Evans stieß bei seinen Ausgrabungen auf Kreta in Knossos darauf und taufte sie auf den Namen Linear B. Da er damals auch Kurator im Ashmolean war, landeten ziemlich viele Stücke hier.»
    Muir legte die Lupe beiseite und hielt das Foto neben das Täfelchen. «Soll das heißen, von den Dingern gibt es mehr als eins?»
    «Mehrere Dutzend. So hundertfünfzig alles in allem – obwohl es sich bei manchen nur um Bruchstücke handelt.» Reed zuckte mit den Schultern. «Das ist eigentlich nicht mein Fachgebiet. Ich verstehe nicht, warum Sie bei diesem scheußlichen Wetter nach Oxford rauskommen, um mich damit zu behelligen. Sie hätten per Taxi zum British Museum fahren und dort ungefähr dasselbe erfahren können. Die Mitarbeiter sind sehr hilfsbereit.»
    Muir ging nicht darauf ein. «Können Sie das lesen?»
    Reed stieß ein Prusten aus. «Das lesen? An der Schrift beißen sich Gelehrte seit fast fünzig Jahren die Zähne aus. Keiner hat sie bisher entziffern können. Wenn das gelänge, wäre es der größte Durchbruch, seit Champollion die ägyptischen Hieroglyphen entschlüsselt hat. Und der hatte natürlich den Stein von Rosette, mit dem er arbeiten konnte.»
    «Haben Sie es schon mal versucht?»
    Reed schüttelte den Kopf. «Wie gesagt – das fällt eigentlich nicht in mein Fachgebiet. Und ich weiß nicht, warum …»
    «Ich brauchte rasch eine Antwort, und Sie sind der Einzige, der hierfür die Freigabe hat.» Muir hatte das Foto aus der Hand gelegt und schlenderte mit einer nicht angezündeten Zigarette zwischen den Lippen im Raum umher.
    «Freigabe?», wiederholte Reed verdutzt. «Sollten diese Inschriften je ein Geheimnis enthalten haben, liegt das über dreitausend Jahre zurück. Inzwischen, nehme ich an, dürfte es längst freigegeben sein.»
    «Genau da irren Sie sich.» Muir drehte sich abrupt um und kam auf Reed zu. «Ich möchte, dass Sie sich mal daran versuchen. Nach der Arbeit, die Sie für Ultra geleistet haben, dürfte das leichtverdientes Geld sein. Das Zeug hier ist nicht mehr in Gebrauch.»
    «Es ist wirklich nicht mein …»
    «Und es kann sein, dass ich Sie in Griechenland brauche. Wenn Pemberton das Foto dort aufgenommen hat, wer weiß, was er dort noch gefunden hat?»
    Jetzt wirkte Reed regelrecht entsetzt. «Griechenland? Aber da herrscht doch gerade Bürgerkrieg.»
    Muir lachte derb und drückte seine Zigarette auf einem leeren Sockel aus. «Wenigstens ist es da wärmer als hier in diesem verdammten Leichenhaus.»

    Es war schon dunkel, als Muir wieder im grauen Gebäude unweit der Victoria Street in London ankam. Die meisten Mitarbeiter waren bereits heimgegangen, aber der Beamte, der Spätdienst hatte, ließ ihn ins Archiv. Es dauerte vier Stunden, aber am Ende hatte er einen Namen und eine Akte. Er begann die Lektüre mit der letzten Seite, blätterte rasch die trockenen Blätter durch. Wie die meisten Akten in diesem Bereich setzte sie Ende 1938 ein, nur spärliche Angaben zunächst – ärztliche Dokumente, Ausbildungsbewertungen –, dann immer Gedrängteres. Zwischen 1940 und 1944 hagelte es nur so Berichte, eine wahre Rundreise zu den vielen Fronten des Krieges – Paris, Moskau, Athen, Heraklion, Alexandria, Kairo –, überschrieben mit einer fast schwindelerregenden Fülle immer neuer Codewörter. Ab 1945 war eine plötzliche Abnahme zu verzeichnen, bis nur noch ein paar dürre Dokumente eine Entlassung durch die Bürokratie belegten. Und auf der letzten Seite ein einzelnes Telegramm. Nach den vergilbten Berichten aus Kriegszeiten wirkte das Papier frisch und wie neu.
    Muir stieß einen leisen Pfiff aus. «Du blöder Hund.» Nachdem er die Berichte noch fünf Minuten lang abermals geprüft hatte, griff er zum Telefonhörer.
    «Ich muss ins Heilige Land.» Kurzes Schweigen. «Nein, es ist mir scheißegal, ob dazu ein Wunder nötig ist.»

ZWEI
    Qaisariyeh, Mandatsgebiet Palästina
    Die Burg stand auf einem Vorgebirge, das wie ein Finger ins ruhige Mittelmeer hinausragte. Erbaut worden war sie vor über achthundert Jahren von französischen Kreuzrittern, zur Abwehr vor Angreifern, die von der flachen Küste und den ruhigen Gewässern angelockt wurden. Letzten Endes waren sie gescheitert, die Burg jedoch blieb bestehen: ein steinernes Zeugnis der außergewöhnlichen Kriegskünste der Kreuzfahrer, durch Jahrhunderte dem langsamen Verfall preisgegeben.
    Jetzt hatte eine neue Generation von

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