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Der vergessene Tempel

Der vergessene Tempel

Titel: Der vergessene Tempel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Harper
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Knossos gerade noch zu sehen. Der Palast hatte ihn sein Leben lang beschäftigt, und trotz aller Eile versetzte es ihm einen Stich, ihn den Invasoren überlassen zu müssen. Vor dem Ersten Weltkrieg hatte er als Student dem legendären Sir Arthur Evans geholfen, ihn aus seinem dreitausendjährigen Schlummer zu wecken – ein goldenes Zeitalter, in dem sie das Gefühl hatten, mit ihren Schaufeln in den Mythos selbst vorzudringen, und jeder Tag neue Funde ans Licht brachte, durch die aus Sagen greifbare Geschichte wurde. Dreißig Jahre darauf war er, inzwischen Witwer, als Leiter der Ausgrabungsstelle zurückgekehrt. Das heroische Zeitalter der Archäologie war vorbei: An die Stelle elektrisierender Entdeckungen war die zähe Mühsal der akribischen Auswertung getreten, aber auch das hatte ihn vollauf zufriedengestellt. Sogar ein paar eigene Entdeckungen hatte er gemacht – darunter eine, die selbst Evans in Staunen versetzt hätte. Er griff nach hinten und befühlte den Tornister, um sich ein weiteres Mal zu vergewissern, dass das Notizbuch noch da war.
    Von Norden brummte in niedriger Höhe ein weiteres Flugzeug heran. In der klaren Luft konnte er es deutlich erkennen: die platte Nase, das schwarze Kreuz auf seiner Seite, sogar das weiße Band der hinterherflatternden Auslöseleine. Wahrscheinlich hatte es seine menschliche Last schon abgeladen; jetzt gleich würde es eine Kurve beschreiben und in Richtung Festland davonfliegen, um eine weitere Ladung aufzunehmen. Doch das Flugzeug wendete nicht. Es flog weiter über den Palast und das Tal hinauf, direkt auf ihn zu.
    Pemberton war kein Feigling. Er hatte in den Schützengräben in Flandern gestanden und sich gezwungen, bei der Attacke zusammen mit den anderen hinauszuklettern, doch beim Anblick des auf ihn zusteuernden Flugzeugs erstarrte er. Er legte den Kopf in den Nacken und fuhr herum, während es über ihm dahinflog, mit so langsamem Motorengedröhn, als würde es jeden Moment vom Himmel stürzen. Die viereckige Luke im Rumpf stand offen wie eine klaffende Wunde.
    Pemberton erschrak heftig: In der Luke war ein Mann aufgetaucht und schaute hinaus. Fraglos hatte er ihn gesehen, und Pemberton fühlte ganz kurz eine seltsame Verbundenheit, als ihre Blicke sich trafen. Dann stürzte sich der Mann in die Tiefe. Mit ausgebreiteten Armen sprang er aus dem Flugzeug, hing einen Moment in der Luft und wurde dann vom Sog beiseitegerissen. Ein langes Band entfaltete sich hinter ihm, straffte sich und erblühte zum weißen Kegel eines Fallschirms, der ihn wie eine Marionette mit einem Ruck in aufrechte Haltung riss. Dennoch schien er weiter mit rasender Geschwindigkeit zu Boden zu fallen.
    Das Ganze hatte nur Sekunden gedauert, doch in der Luft über ihm waren bereits weitere Männer aufgetaucht. Das Flugzeug lud erst jetzt seine Ladung ab. Pemberton senkte den Blick. Der Wind würde die Fallschirmjäger an ihm vorbeitragen, aber nicht weit genug, um ihm ein Entkommen zu ermöglichen. Er saß in der Falle. Pemberton machte kehrt und hastete auf den Palast zwischen den Bäumen zu. Eine andere Möglichkeit blieb ihm nicht.

    Er hetzte die viertausend Jahre alten Stufen hinauf und ließ sich dann keuchend hinter einer Mauer fallen. Evans’ Ehrgeiz hatte sich nicht auf die schlichte Ausgrabung des Palastes beschränkt: Stellenweise hatte er sogar versucht, ihn wiederaufzubauen, mit dem Ergebnis, dass sich aus den Trümmern, seltsam geisterhaft, eine Handvoll halb fertiggestellter Gebäude erhob. Manche Besucher fanden sie suggestiv und anregend, andere schmähten sie als Verhöhnung der Archäologie; Pemberton, durch seine Profession eher zur Missbilligung verpflichtet, hatte sie insgeheim immer recht gern gemocht. Nie hätte er sich träumen lassen, dass er hier einmal unter Lebensgefahr Zuflucht suchen müsste. Er wandte sich um und richtete sich etwas auf, spähte durch das Fenster in der rekonstruierten Wand.
    Ganz kurz gestattete er sich die Hoffnung, die Fallschirmjäger könnten sich vielleicht landeinwärts gewandt haben. Doch dann sah er sie. Sie waren näher, als er befürchtet hatte: Während seiner paar Minuten Weg bis zum Palast hatten sie sich von ihren Fallschirmen losgeschnallt, formiert und den Vorstoß ins Tal hinab begonnen. Er konnte sie sehen, ein schmaler Zug, der hangabwärts durch den getüpfelten Halbschatten des Olivenhains wanderte, der sich bis zum Palast hinunter erstreckte. Er zählte sechs Mann mit eng anliegenden, randlosen Helmen und weiten

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