Der vergessene Turm: Roman (German Edition)
Pony wieherte und machte einen Satz nach vorn.
Ein Schwarm Enten flatterte vom Ufer des Sees auf, dem sich die Straße jetzt bis auf einen Steinwurf näherte. Zorniges Geschnatter erfüllte die Luft.
Circendil deutete ins Schilf hinüber und rollte mit den Augen.»Na bitte. Was habe ich gesagt? Oder wolltest du nur wieder mein Schwert tragen?«
Mellow brummte etwas, verkniff sich aber eine Antwort. Sie ritten über die drei Bögen der Seebrücke, gelangten so an das rechte Ufer der Mürmel und bogen dahinter in die Mürmelstraße ein.
Eine Stunde später erreichten sie den Dorfheckenzaun von Mechellinde. Der Duft von Rauch und frisch geräuchertem Fisch hing in der Luft, und die Vahits bemerkten, wie ihre Mägen zu knurren begannen.
15 . KAPITEL
In der Bücherey
E S WAR FAST T EEZEIT, als sie mit steifen Beinen vor der Bücherey von den Ponys stiegen. Der Markt war vorüber, und nur noch eine Schar Sperlinge untersuchte emsig pickend die beim Kehren vergessenen Reste der Stände.
Der weite Platz rund um den Brunnen lag im schrägen Nachmittagslicht und wirkte wie immer um diese Zeit ein wenig verloren. Vor dem Gasthof Zum Rauschenden Adler wartete ein müdes Gespann auf seinen Fuhrmann, der sicherlich zu einem frühen Abendtrunk im Inneren des Wirtshauses zu suchen war. Sonst lag der Markt verlassen da.
Noch waren die meisten Bewohner des Khênbrada mit dem Abschluss ihrer täglichen Arbeiten beschäftigt (oder schon mit den Vorbereitungen für das Abendessen). Die wenigsten standen oder saßen müßig herum und verfolgten das spärliche Geschehen auf den von und zum Marktplatz führenden Gassen und Wegen. So kam es, dass kaum jemand Circendil nachstarrte, während die drei Reiter die Straße der Schneider heraufkamen. Ein Tross neugieriger Kinder fand sich allerdings schnell zusammen. Sie liefen den Ponys schreiend nach (und voraus) und ergingen sich dabei in lautstarken Vermutungen, wer denn wohl der wrisilrhiobhafte Mann auf dem starkknochigen Pony sei. Ein paar erfanden aus dem Stegreif heraus einen Versreim und sangen ihn johlend zu einer bekannten Melodie, während sie im Takt um die Ponys herumsprangen:
Hüh, hoh, Holunderbusch
hoh, hüh, blast einen Tusch!
Kommt ein Berg von Mann daher
macht sich auf dem Pony schwer.
Hüh, hoh, verratmirsnicht
hoh, hüh, sieh sein Gesicht!
Hat ’ne Nase ellenlang
doch er lacht, uns ist nicht bang.
Hüh, hoh, da staunt der Aar
hanebüch, so groß er war!
Wirft ’nen Schatten wie ein Baum
stößt den Kopf in jedem Raum
Hüh, hoh, Holundersaft
hoh, hüh, was hat der Kraft!
Trinkt im Nu ein Fass dir aus
Macht dich platt – und aus die Maus.
Dazu klatschten sie in die Hände, lachten, juchzten und tanzten einen Schwindlerreigen. Die ersten waren schon völlig außer Atem, als der Tross im Schlepptau der drei Reiter am Tor der Bücherey anlangte. Finn warf ihnen zur Belohnung für das Lied zwei Twelter zu.
Der Twelter war die kleinste und häufigste Münze im Hüggelland; zwölf davon ergaben einen Heller. Zwei Twelter waren der sechste Teil eines Tagelohns und für den Anlass viel zu viel; aber Finns Hoffnung erfüllte sich auf der Stelle: Schreiend liefen die Kinder davon, um zu entscheiden, wie sie ihren unverhofften Verdienst am besten aufteilten.
Finn zog am Glockenseil, das rechts des Flügeltores herabhing. Einer der Gildendiener ließ sie ein, kaum dass das helle Geläut verklungen war. Der ältere Vahit starrte sie aus dem Halbdunkel des Torwegs an – und erschrak, als er Circendils hoher Schultern ansichtig wurde.
»Du liebe Güte, Herr Finn!«, platzte er heraus. »Wen bringst du denn da mit her? Ja bist du noch gescheit!?«
Es war Tuom Mürmdohl; Finn kannte ihn seit seinem ersten Besuch in der Bücherey, als er noch ein kleines Kind gewesen war. Die Mürmdohls galten als die treueste Buoggafamilie in Mechellinde. Sie waren so etwas wie eine feste Einrichtung; wenigstens einer der ihren stand immerzu im Dienst der Gilde oder arbeitete als Schriffer in der Colpia. Die Mürmdohls gehörten zu den Ersten, die einen Broch auf dieser Seite der Mürmel errichtet hatten, und es hieß, die ersten Mürmdohls hätten schon beim Bau der Bücherey geholfen. Aber es war ihnen in all der Zeit nie vergönnt gewesen, auch nur ein Mal ein Mitglied ihres Hauses auf dem Stuhl des Witamáhirs zu sehen. Doch sie gaben die Hoffnung nicht auf.
»Keine Sorge, Tuom«, beeilte sich Finn zu versichern. »Es hat alles seine Richtigkeit. Dies ist
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