Das Buch der Vampire 05 - Sanfte Finsternis
Prolog
In dem unsere Heldin ihre Möglichkeiten abwägt
Victoria Gardella Grantworth de Lacy, die Witwe des Marquis von Rockley, hatte ein Problem — und ausnahmsweise hatte es nichts mit Vampiren zu tun.
Nun ja, das war nicht ganz richtig, denn indirekt bestand da schon eine Verbindung. Eigentlich gab es keinen Bereich in ihrem Leben, der nichts mit den Untoten zu tun hatte.
Seit ihre Großtante, Eustacia, Victoria vor zwei Jahren darüber in Kenntnis gesetzt hatte, dass sie einer uralten Familie von Venatoren — Vampirjägern — entstammte, bestand Victorias Leben nur noch aus rotäugigen Untoten und deren schimmernden Fangzähnen, spitzen Holzpflöcken, die sie versteckt am Körper trug, und der schweren Aufgabe, trotz all dieser widrigen Begleitumstände in der Londoner Gesellschaft nicht aufzufallen.
Denn Victoria war alles andere als eine »normale« Frau: Sie trug ein heiliges Amulett, das ihr Kraft verlieh — die vis bulla, ein winziges silbernes Kreuz, das mit einer Nadel am Körper jedes Venators befestigt war und ihn mit außergewöhnlichen Fähigkeiten versah: Schnelligkeit, Kraft und Schnellheilungskräfte.
Doch ihre einzigartigen Fähigkeiten halfen Victoria bei ihrem gegenwärtigen Problem nicht weiter, denn es handelte sich dabei um etwas, womit junge Frauen häufiger zu kämpfen hatten.
Bei ihrem Problem ging es um einen Mann.
Sie betrachtete das tiefrote Kleid, das von ihrer Zofe für den heutigen Ball, zu dem die Herzogin von Farnham geladen hatte, frisch geplättet worden war. Es lag in seiner ganzen Pracht ausgebreitet auf dem hüfthohen Bett. Mit dem tiefen Dekollete, dem schlichten Schnitt und den nur sparsam angebrachten Rüschen war es genau die Art von Kleid, die die Aufmerksamkeit der Herren wie ein Magnet anziehen würde, während diese gleichzeitig versuchten, ihre Blicke und Hände nicht auf Wanderschaft gehen zu lassen.
Es war ein Kleid, das ihre seidige Haut, das üppige dunkle Haar, die vollen roten Lippen und die wunderschönen Augen nur noch mehr hervorheben würde.
Angetan mit diesem Kleid, hoch aufgetürmten Locken, um ihren schlanken, eleganten Hals zu zeigen (der zurzeit keine Vampirbisse aufwies), und den zarten hellen Schultern könnte sie Sebastian Viogets Augen zum Glühen bringen und in ihm das Verlangen wecken, sie zu berühren. Sein Blick würde keinen Zweifel lassen, was er von ihr wollte... und was er auch schon bei mehreren Gelegenheiten bekommen hatte.
Aber so angenehm diese Erinnerungen auch sein mochten, Sebastian war zurzeit leider nicht ihr Problem.
Es wäre sehr viel einfacher gewesen, wenn er es wäre.
In diesem Moment klopfte es stürmisch an der Tür, und dann stob ein Wirbelwind in ihr Zimmer. Das ungebändigte orangefarbene Haar ihrer Zofe passte zu ihrer Persönlichkeit: laut, hitzköpfig und lebhaft. »Mylady, tut mir leid, dass es so lange gedauert hat, bis ich die hier gefunden habe«, sagte sie und wedelte mit einem Paar hellrosa Handschuhe. »Ich hatte ganz vergessen, dass ich ein paar Flecken hatte rauswaschen müssen. Sie waren
noch zum Trocknen aufgehängt. Grasflecken, von der Feier bei Lord Fenworth, nachdem Sie aus Italien zurückgekehrt waren. Die wollten erst gar nicht rausgehen, und ich fragte mich schon: >Was soll Mylady bloß anziehen.. .?«<
Victoria ließ ihre Zofe plappern. Die Grasflecken stammten tatsächlich von der Feier bei den Fenworths — sie hatte einen Vampir in deren Garten pfählen müssen. Handschuhe störten, wenn man mit einem Pflock hantierte, deshalb hatte sie sie ausgezogen und während des Kampfes fallen gelassen, um dann einen mit dem Absatz in den Rasen zu bohren. Doch offensichtlich war es ihrer Zofe gelungen, die Flecken zu entfernen, denn der hellrosa Stoff war makellos sauber und passte wundervoll zu ihrem granatroten Kleid. Vielleicht würde sogar Max das bemerken.
Aber eigentlich bemerkte er ohnehin immer alles.
Allerdings machten weder schöne Kleider noch komplizierte Frisuren, geistvolle Gespräche und intelligente Fragen großen Eindruck auf diesen Mann, der - wenn auch unfreiwillig - gestanden hatte, dass er sie liebte... aber trotzdem nie, unter gar keinen Umständen, mit ihr zusammen sein wollte.
Weil er Angst um sie hatte.
Da ihre Mutter nicht in der Nähe war, machte Victoria sich nicht die Mühe, ihr Schnauben zu unterdrücken.
Angst um sie. Sie. Illa Gardella. Die körperlich stärkste Frau auf der Welt, die Anführerin der Venatoren. Die Frau, die über so viel Kraft und
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