Der Verhandlungs-Profi
diese Zugänge sind natürlich legitim, aber eben auch sehr beschränkt. Denn sie richten ihren Fokus nur auf einen einzigen Verhandlungsgegenstand. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, gehen sie auch noch davon aus, dass ihre Anliegen automatisch mit den Interessen der anderen Verhandlungspartei im Konflikt stehen. Das Motto dabei ist: Wenn es gut für den anderen ist, kann es nicht gut genug für uns sein. Ein Irrtum, der zu fatalen Haltungen führen kann, wie die Aussage eines amerikanischen Diplomaten während des Kalten Krieges beweist: „Wenn es gut für die Russen ist, kann es nicht gut für uns sein.“
Diese Haltung bezeichnen wir als distributive Verhandlung. Ein Kuchen wird in gleich große Stücke aufgeteilt. In der distributiven Verhandlung dreht sich alles nur um einen Aspekt, zum Beispiel um den Preis. Typisch dafür ist die Verhandlung über einen Gegenstand auf dem Flohmarkt.
Die Verhandlungsparteien handeln, als würden sie einen Kuchen (Pie) unter sich aufteilen. Dieser Kuchen hat in den Augen der Verhandlungspartner eine gewisse Größe, die nicht veränderbar ist (Fixed Pie). Dies würde natürlich bedeuten, dass das Stück, das der eine bekommt, nicht auch der andere bekommen kann. Was somit nur in einem Aufteilen münden kann.
In der Wirtschaft würde das bedeuten, dass der Gewinn einer Seite immer auf Kosten einer anderen Seite geht. Dabei sieht man in der Praxis, dass die Interessen, die hinter Forderungen oder Positionen stecken, oft die gleichen sind, parallel laufen oder zumindest untereinander kompatibel sind.
Eine schöne Metapher für die Kompatibilität zweier Positionen und Interessen liefert die Geschichte vom Streit um die Orange von Roger Fisher und William Ury:
Zwei Verhandlungspartner streiten sich um eine Orange, und sie können zu keinem anderen Ergebnis kommen als die Orange am Ende in der Mitte durchzuschneiden und jedem eine Hälfte zu geben. Damit findet zwar keiner der beiden das Auslangen und keiner ist zufrieden, aber zumindest gibt es ein Ergebnis. Wenn auch in Form eines Kompromisses.
Dieser Kompromiss bringt aber beiden nichts. In Wirklichkeit hätte die eine Seite nämlich nur die Schale der Orange benötigt, um daraus Marmelade zu machen, und die andere Seite hätte das Fruchtfleisch benötigt, um daraus Orangensaft zu pressen.
Um den Fixed-Pie-Irrtum zu vermeiden, lautet die richtige Frage also statt: Wie können wir diese Orange am besten unter uns aufteilen?
Was an der Orange interessiert dich und was an der Orange interessiert mich?
In einem – natürlich theoretischen – Fall wie diesem kann die Verhandlung dazu führen, dass aus 100 Prozent des Verhandlungsgegenstands, hier einer Orange, plötzlich 200 Prozent werden. Denn jeder erhält das gleiche Ergebnis, als hätte er für sich selbst eine ganze Orange bekommen. Der Kuchen, der in diesem Fall eine Orange ist, wurde damit vergrößert und der Anteil jedes Einzelnen am Kuchen ebenfalls. Überlegen Sie:
Würden Sie lieber 70 Prozent eines Stücks bekommen, das 100 Euro wert ist, oder würden Sie lieber 50 Prozent eines Stücks bekommen, das 200 Euro wert ist?
Und genau das ist die Frage, die Sie in Ihren Verhandlungen auch leiten sollte, nämlich:
Wie bekomme ich einen größeren Anteil am größeren Ganzen?
Denn selbst wenn Sie zum Beispiel von einer ursprünglichen Forderung, 100 Prozent des Verhandlungsgegenstands für sich zu bekommen, auf 60 Prozent fallen, diesen Verhandlungsgegenstand aber durch geschicktes Verhandeln vergrößert haben, kann es sein, dass Sie am Ende trotzdem mehr für sich erhalten als mit Ihrer ursprünglichen Forderung. Diese Art zu verhandeln schafft also für beide Seiten einen Mehrwert.
Abbildung 1: Exzellente Verhandler vergrößern nicht nur ein Stück, sondern die ganze Torte
Dass so etwas nie im Alleingang geht, ist klar. Sie brauchen die andere Verhandlungspartei dazu. Weil diese aber möglicherweise den Fixed-Pie-Irrtum nicht kennt und ihm daher unterliegt, ist es Ihre Aufgabe, in der Verhandlung durch geschicktes Betrachten des Themas, durch das Identifizieren der Interessen, die hinter Forderungen und Positionen stecken, herauszufinden, was wirklich wichtig ist, und dadurch den Kuchen für beide Parteien zu vergrößern.
Verhandeln Sie in einer Gehaltsverhandlung also nicht nur Ihr Gehalt, sondern auch Ihre Urlaubstage, mögliche Homeoffice-Tage, einen Fahrtkostenzuschuss, einen Dienstwagen, Technik, die Sie auch privat nutzen können, wie
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