Der verkaufte Tod
vorausgesagt habe, dachte er. Außer Geschrei kommt nichts dabei heraus. Wie kann sie glauben, daß es in den Slums ein Gewissen gibt?
Er nickte der Schwester an der Tür zu, was hieß: »Ihr könnt das Kind freigeben«, setzte sich vor dem Krankenhaus in seinen Jeep und fuhr in einer Staubwolke davon. Polizist in Kalkutta ist ein Scheißjob, dachte er und drehte Blinklicht und Sirene an, um alles vor sich zu verjagen.
Ein paar Wochen nach Vinjas Rückkehr in die Hütte fand Tawan den Platz, auf dem er fortan leben wollte: die Hauswand der Punjab National Bank an der Brabourne Road. Nach Einigung mit dem Revierchef der Polizei erlebte Tawan eine der schwersten Stunden seines Lebens.
Er wartete ab, bis Baksa, wie jeden Morgen, in einem Zinkeimer Vinja gebadet hatte und nun den Eisenkessel mit Wasser über das Feuer hängte, um Tee zu kochen. Heute gab es ein luxuriöses Frühstück – ein fetter Amerikaner hatte Baksa für ihren Dienst zehn Dollar gegeben. Sie hatte damit auf dem Frühmarkt eingekauft und war glücklich, ihren Bruder zu überraschen. Sie hatte ihn mit leidenschaftlichen Küssen geweckt, aber Tawan hatte sie weggestoßen und nur gebrummt: »Laß mich in Ruh! Du riechst nach Weiß.«
Nun saß er neben der frisch gebadeten, fröhlichen Vinja und sah Baksa zu, wie sie am Herd hantierte, ein buntes Baumwolltuch um die Hüften und sonst nur eingehüllt in ihre offenen, langen schwarzen Haare. Sie war von wunderbarer Schönheit, und Tawan dachte, daß die Natur ein höhnisches Wesen sein mußte, denn die lockendsten Blumen ließ sie auf den Sümpfen blühen. Es kostete ihn Mühe, seine triebhafte Liebe zu seiner Schwester zu unterdrücken und mit nüchterner Stimme zu sagen: »Heute ziehe ich um, Baksa.«
»Was sagst du da?« Sie drehte sich zu ihm um. Ihre fast schwarzen Augen waren weit und voller Ratlosigkeit.
»Ich habe den Platz gefunden, den ich gesucht habe.«
»In der Stadt?«
»Ja, in einer der besten Gegenden. Mit der Polizei habe ich mich schon verständigt. Ich habe auch schon die Bretter für das Dach gekauft.«
»Du willst Vinja und mich verlassen?« Baksas Stimme wurde klein wie bei einem Kind. »Wir gehören doch zusammen, wir lieben uns.«
»Du bist meine Schwester.«
»Wir wollten nie daran denken, Tawan. Du bist ein Mensch, und ich bin ein Mensch, hast du einmal gesagt. Und diese beiden Menschen lieben sich – nur das ist wichtig, alles andere nicht! Warum willst du gehen?«
»Ich ersticke in diesem Sumpf aus Dreck, Urin und Scheiße. Ich muß weg, ich muß einfach weg!«
»Dann … dann sehen wir uns nie wieder? Du willst Vinja nicht wiedersehen?«
»Ich komme euch besuchen, oder ihr besucht mich. Vielleicht verdiene ich eines Tages so viel, daß ich euch nachholen kann. Aber dann darfst du keine Hure mehr sein.«
»Es ist doch nur ein Geschäft, das weißt du doch.«
Er antwortete darauf nicht, zog Vinja an sich und küßte sie auf die Augen. Dann stand er auf und ging zur Tür.
Baksa hielt ihn am Ärmel seines durchlöcherten Hemdes fest. »Du willst schon gehen? Ohne Frühstück? Ich habe ein Frühstück wie ein Baumwollhändler kaufen können.«
»Mach es uns nicht so schwer, Baksa.« Er schüttelte ihre Hand ab, blickte auf ihre kleinen, festen Brüste und seufzte. »Laß mich los – ich muß flüchten vor dir!«
Er stieß die Tür auf, rannte aus der Hütte, hetzte über den schwammigen Weg, denn es hatte in der Nacht wieder geregnet, die Slums schwammen wie auf einem Sumpf, und er rannte, als ginge es um sein Leben, bis er die befestigte Straße erreichte. Ein Bus fuhr gerade an – Tawan erreichte ihn noch mit langen Sprüngen und klammerte sich an der Tür fest.
Jetzt beginnt ein neues Leben, dachte er, als der Bus durch die Innenstadt von Kalkutta fuhr. Ich bin aus dem Sumpf heraus, und schlechter kann es nicht werden. Und ich bin ein junger, kräftiger Mann, den man gebrauchen kann, kein Schatten von einem Menschen wie die anderen aus den Slums. Ich habe eine Zukunft. Verdammt, ich habe eine Zukunft! Ich brauche sie nur zu suchen, und ich werde sie finden.
Ein ganzes Jahr wohnte Tawan schon unter seinem Bretterdach mit dem Plastikvorhang an der Hauswand der Punjab National Bank, als ein Nachbar von Baksa bei ihm erschien und sagte: »Du sollst zu deiner Schwester kommen. Es geht ihr nicht gut. Sie hat eine Krankheit, die keiner kennt und heilen kann.«
»Hat sie einen Arzt gefragt?« antwortete Tawan.
»Ja. Aber er hat nur mit dem Kopf geschüttelt und
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