Der verlorene Brief: Roman (German Edition)
großen Vogels. Finn hörte ihn leise murmeln; aber ob der schmale Mensch dabei zu sich selber sprach oder auf sein Reittier einredete, wusste er nicht zu sagen. Vielleicht gab er dem Criarg auch den Befehl, weiterhin an diesem Ort zu warten; denn er wandte sich ab und schlug sich erneut in die Büsche, glücklicherweise ein Stück unterhalb von Finn und abermals ohne den hinter dem Buschwerk kauernden Vahit zu bemerken.
Guan Lus Schritte wurden leiser und schließlich unhörbar im Gekrächze der streitenden Krähen.
Der Criarg, der seinem Herrn nachgeblickt hatte, senkte den Kopf und zupfte lustlos an einigen Gräsern herum. Finn bezweifelte, dass der Vogel die Halme fraß; aber es mochte sein, dass erdarunter nach Mäusen suchte oder nach Fröschen oder anderem lebenden Fleisch. Die Axt hing sorgsam festgezurrt an der linken Seite des Sattels; die blanke Schneide glänzte in den immer noch vereinzelten, aber nun beständigeren Sonnenstrahlen, die sich durch den Nebel stahlen.
Zwanzig Schritte, dachte Finn wie benommen. Es sind nur zwanzig Schritte.
Obwohl der Criarg um vieles größer war als er, hing die Axt doch in einer für den Vahit erreichbaren Höhe. Wenn er sich ein wenig streckte, würde er an die Waffe heranlangen können, jedenfalls bis an den Knoten des Riemens … Falls er den Mut aufbrachte, seine Deckung zu verlassen und auf den Vogel zuzutreten.
Zwanzig Schritte.
Vor Finns innerem Auge erschien das Bild der gnadenlos zuhackenden Criargschnäbel – die Anselmas Körper in Windeseile zerfleischt hatten.
Ich kann es nicht!, dachte er und zitterte.
Seine Hand ließ behutsam den Zweig los, den er niedergebogen hatte, um besser zu sehen. Dabei streifte sie ohne Absicht den Knauf Maúrgins, und er blickte an seiner linken Seite herunter. Es war nur ein einzelner, dünner Sonnenstrahl, der den Nebel durchdrang. Aber er verfing sich in dem roten Karbeol; und es ging ein Glühen von ihm aus, das Finns Herz erreichte und auf geheimnisvolle Weise erwärmte. Sein Zittern verebbte.
Der Criarg machte einen dumpfen Schritt nach vorn und untersuchte die Wurzeln eines noch jungen Hartriegelstrauchs.
Es ist ein schneller Schnitt, dachte Finn zu seiner eigenen Verwunderung. Ein rascher Streich, der den Knoten lösen würde, und die Axt fiele herab. Wir Vahits haben einen leisen Tritt, und wir sind flinker als Menschen. Vielleicht könnte er bei dem Criarg sein, ehe der überhaupt etwas bemerkte. Mit ein wenig Glück und Behändigkeit. Und falls er nicht auf brechende Binsen trat.
»Und was dann, wenn das dein ganzer Plan ist?«, fragte die Stimme abermals in ihm. »Mit der Axt bist du langsamer als vorher. Und der Schnabel des Criargs wäre genau hinter dir. Hinter dir her , um noch genauer zu sein. Was dann?«
Also darf ich nicht fliehen, dachte Finn, mit einem Mal entschlossen und erschrocken zugleich über seinen Entschluss.
Ich muss den Criarg töten, um vor ihm sicher zu sein.
Nur wie?
Auch wenn Maúrgin für seine Vahithände wie ein Schwert war, so blieb die Klinge doch das, als was sie nach dem Willen Nemgláins geschaffen worden war: ein Dolch. Scharf war er ohne Frage, aber leider kürzer als ein richtiges Schwert, und das bedeutete: Wohin immer er auch damit stach, Maúrgins Reichweite war gering. Wo genau mochte das Herz des Vogels sitzen? Wie tief unter einer Schicht aus Federn, lederner Haut, Fett und Muskeln? Und würde die Dwargenschneide lang genug sein, um dieses Herz zu erreichen? Vermutlich nicht. Also wie sollte er das große Reittier sonst töten?
»Mit der Axt, du dummer Vahit« , beschimpfte er sich selbst, weil er erst jetzt darauf kam.
Aus mir wird nie ein richtiger Kämpfer werden, dachte er, ohne recht zu wissen, was das denn war: ein richtiger Kämpfer. Und während er noch glaubte zu zögern, zog er Maúrgin langsam hervor – und rannte los, ehe sein Verstand begriff, was er tat.
Vahitfüße waren in der Tat leiser als das dumpfe Pochen von Menschenbeinen – oder das schwere Stapfen von Dwargenstiefeln. Als Finn über das freie Feld lief, hätte auch ein im Gebüsch lauernder Fuchs nicht mehr vernommen als das sanfte Trippeln von Hasenpfoten, die einen Haken schlugen.
Aber Criargs waren keine Füchse; und dieser hörte etwas.
Sein hässlicher Hals ruckte hoch.
Sein Kopf zuckte herum.
Der Raubvogelschnabel, eben noch im Grase scharrend, öffnete sich und zeigte eine blaue Zunge, die wie die einer Schlange hin und her fuhr, als ob sie witterte. Das
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