Der verlorene Brief: Roman (German Edition)
Wattigkeit. In Kürze wird der Nebel verschwunden sein, erkannte Finn. Oder so dünn geworden sein, dass die Auwiesen suchenden Augen alles preisgaben, was sich darin verbarg und größer als ein Hase war. Dann wird er sich nicht länger verstecken können. Ich werde ihn entdecken. Das Dumme ist nur … auch er wird mich dann sehen. Falls er mich nicht schon vorher findet.
Falls er dann noch da ist. Falls er nicht nach der Gilwe sucht.
Das sind zu viele falls , dachte Finn ärgerlich und verängstigt zugleich. Etwas raschelte im Ried. Ein Huschen im Ginster. Ein mehrfaches Knacken folgte. Ein Zittern im Gebüsch. Ein Vogel, eine Maus vielleicht.
Keine Schritte. Oder doch? Nein.
Es ist das immerfort währende Gezänk der Krähen, dachte er. Es macht einen schier verrückt. Dazu der aufkommende Wind, der durch die Gräser streicht.
Finn horchte angespannt, und in seiner Furcht verdoppelte sich jedes Geräusch zu einem zerplatzenden Fetzen beginnenden Schreckens. Wo war der Ledir? Hatte er Finn bemerkt? Schlich er sich vielleicht längst um ihn herum? Gelangte er eben jetzt in seinen Rücken? Finn widerstand der Versuchung, sich herumzuwerfen; ebenso unterdrückte er mühsam den Drang, einfach aufzuspringen und querfeldein davonzulaufen. Mach bloß kein Geräusch, ermahnte er sich, keine schnelle Bewegung, oder dubist geliefert. Finns Herz klopfte ihm dabei so laut in der Brust, dass er glaubte, man müsse es bis zum Fluss hin hören können. Unwillkürlich spähte er in Richtung der Mürmel, deren zweihundert Klafter entfernte Ufer er nur ahnen konnte, und so fiel sein Blick auf den jäh wippenden Ast einer Kiefer. Daneben verharrte, fast gänzlich im Nebel verborgen und Finn die Schmalseite zuwendend, der Ledir, gut fünfzehn Klafter weiter entfernt als zuvor. Ja, dort stand Guan Lu; noch immer hielt er die Axt. Finn zog den Kopf so tief ins Gras wie möglich und hoffte vergeblich auf einen neuen Schwall dichteren Nebels.
Dann hörte er, was er fürchtete: langsame Schritte. Er hielt nahezu den Atem an; und wagte doch einen Blick durch die dünner werdenden Schwaden und über den vermoderten Baumrest hinweg. Der Ledir stand jetzt dort, wo sich Finn vor wenigen Sekunden noch befunden hatte; der Mensch blickte zu den Krähen hinüber, ehe er sich umdrehte und wie ein Schemen inmitten von Nebelfetzen hinter hohen Büschen verschwand.
Finn pochte das Herz bis zum Hals. Hatte der Ledir ihn bemerkt? Erst nach vier oder fünf Atemzügen begriff er, dass kein Angriff erfolgte. Einem mit Sicherheit tödlichen Zusammentreffen war er gerade noch einmal entgangen.
»Und was jetzt?«, rief eine erboste Stimme in ihm. »Er hat die Axt. Was also jetzt?«
Ich weiß es nicht, dachte Finn verzweifelt.
Dicht an den Boden gepresst, stellte er fest, dass sein Vorhaben offensichtlich kläglich gescheitert war. Der Ledir hat die Axt gefunden. Damit hat er natürlich genau das erreicht, was er nicht sollte; und er wird sich fragen, wo denn die verschmorten Leichen sind, die Opfer seiner Feuersbrunst; und wenn er nicht dümmer ist als ein Huhn, wird er zwei und zwei zusammenzählen.
Finn schwankte zwischen Niedergeschlagenheit und Erleichterung, fühlte sich zwischen Pflicht und Aufgeben hin und her gerissen.
Plötzlich, ohne dass er eine bewusste Entscheidung getroffen hatte, setzte sich sein Körper wie von allein in Bewegung; und ehe er sich versah, huschte er zum Baumstumpf zurück und folgte der durch den Nebel eilenden Gestalt des Ledirs. Die fast waagerecht scheinende Sonne riss den roten, spitzen Hut immer wieder für Augenblicke aus dem Dunst heraus, während Finn manchmal bis zu den Schultern darin versank, je näher sie dem Ufer kamen, wo der Nebel am dichtesten stand.
Dann hörte Finn von vorn ein neuerliches Krächzen, aber diesmal war es mitnichten das von Krähen. Es klang rauer und irgendwie gurgelnder; ein dumpfes Tapsen, das Finn nur zu gut kannte.
Nach wenigen Schritten, die Guan Lu aus dem Buschwerk herausführten, sah Finn sich nicht getäuscht. Der Dunst teilte sich auf dem freien Feld. Finn gewahrte einen Criarg, der mit schleifenden Zügeln auf die Rückkehr seines Reiters wartete. Mit wippendem Hals kam er seinem Herrn entgegen. Umherzuckende, gelbe Augen über einem grausam gebogenen Schnabel, dahinter der für Finn immer noch ins Unfassbare vergrößert erscheinende Körper, der entfernt dem eines Bussards ähnelte.
Der Ledir nahm Glimfáins Axt und befestigte sie mit einem Riemen am Sattel des
Weitere Kostenlose Bücher