Der verlorene Freund: Roman (German Edition)
sie ein zweites Mal. Es war nicht da, als hätte es niemals existiert. Doch das war unmöglich, und während sie noch einmal die Runde machten, wuchs ihr Misstrauen, und am Ende beschuldigten sie sich gegenseitig. Sie schlugen aufeinander ein, an Ort und Stelle, und Aiache bekam am meisten ab. Genau so war es: Einer musste auf dem Friedhof dran glauben, und der andere behauptete, Aiache sei rückwärts umgekippt und auf einen Stein gefallen, was durchaus sein konnte, denn noch in derselben Nacht haben wir uns den Blutfleck angesehen, und der Stein war nicht bewegt worden.
Gleich machte das Gerücht die Runde, auf dem Friedhof liege ein Schatz begraben und ein Kreuzsei verschwunden. Im Dorf war von nichts anderem mehr die Rede. Manch einer begab sich zwischen den Gräbern auf die Suche, und am nächsten Tag sah man Gruben über Gruben, und wir mussten eine Wache aufstellen. Es war ein Glas gewesen, aber man machte eine Truhe daraus, sprach von zweiundzwanzigkarätigen Körnern, von Barren sogar. Obwohl sie Julio seit eh und je kannten, wollte keiner glauben, dass er die Sache nicht eingefädelt hatte, denn nie hat er verraten, um welches Kreuz es sich handelte und ab welchem Baum sie rechtwinklig die Schritte gezählt hatten, denn es standen mehrere dort. Mit der Geschichte kam er nach Rivera vors Gericht und von da ins Gefängnis, wo er noch ein paar Jahre abzusitzen hat.
Inzwischen meldete sich die Nichte des alten Gabino und erstattete Anzeige, weil das Kreuz ihres verstorbenen Onkels fehlte. Falls der Schatz auftauche, werde sie ›Entschädigung‹ verlangen. Gisela stachelte sie an, denn im Grunde wollte sie alles befördern, was Marga und den Kindern das Leben vergällte. Die Zigeunerin glaubt nicht an einen Unfall und hat alle davon überzeugt, dass die Julios, wie sie sie nennt, nur warten, bis er seine Strafe abgesessen hat, um das Gold vom Friedhof zu holen und sich zu verdrücken. Mehrmals sind die beiden Frauen aufeinander losgegangen, und selbst als sich die Wogen glätteten, war ihnen jeder Anlass recht für einen Streit. In Corrales kann man sich kaum aus dem Weg gehen.Nichts und niemandem kann man in Corrales aus dem Weg gehen, denn wie der Herr Doktor gesagt hat: alles, was war, existiert. Einander zu gefallen, über den Hass der beiden Frauen hinweg, war also das Letzte, was die beiden Kinder hatten tun dürfen. Inzwischen habe ich erfahren, dass sie sich heimlich trafen, und als die zwei Jungs gestern fortgelaufen sind, hat die Zigeunerin Rulo mit Steinwürfen verfolgt. In dem Moment muss Jonathan Sandra abgeholt haben. Noch weiß ich nicht, ob sie es geplant hatten oder ob es spontan geschah.«
Der Richter hielt sein Glas in der Schwebe, schnalzte mit der Zunge und trank aus. Einige Sekunden blieb er in Gedanken versunken, dann wurde sein Blick bohrender. Die kleinen Mandelaugen schienen eine Antwort von mir zu fordern, aber ich wusste, dass es da noch etwas anderes gab. Ich erzählte ihm, weshalb ich nach Corrales gekommen war, und er hörte aufmerksam zu, wollte Genaueres über Hansens Ende wissen, über seine Hinterbliebenen. Da trat ein dunkler Hüne in blauem Hemd zu uns, den mir der Richter als Kommissar Santana vorstellte. Der Mann reichte mir eine schlaffe, raue Hand, während er sich an den Tisch setzte, und ließ sich meine kurze Geschichte von Beppo wiederholen, den offensichtlich die Wirkung anstachelte, die seine Worte auf den Freund hatten, der immer mehr in sich zusammensank und den etwas zu jucken schien, denn er kratzte sich die angehende Glatzeund musterte mich neugierig. Seine Augen waren müde, die Knochen bestimmt ebenso, und bevor ich mir einen Reim auf das Schweigen am Tisch machen konnte, bestellte er einen Amaro mit Soda, zog eine Augenbraue hoch, schien eine Herausforderung anzunehmen.
Fünf
Während im überfüllten Lokal die Samstagnacht rund um das Bingo, die Gitarren und die Stimmen anschwoll, erzählten mir Santana und der Richter abwechselnd, dass die Stumme eines Nachmittags aufgeregt und atemlos aufs Revier gekommen sei, am wachhabenden Polizisten gezerrt habe, damit man ihr folge. Sie brachte sie zum Friedhof, wo zwei kleine Jungs an den Vasenhaltern der Nischenmauer herumkletterten, und sobald sie begriffen, dass man sie nicht abführen wollte, erzählten sie, der Mann sei mit einem Sack aus dem Auto gestiegen, an den Grabplatten vorbeigegangen bis zum alten Feld, wo er innegehalten, sich umgeschaut und heimlich ein Kreuz ins Gras gesteckt habe. Sie hatten
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