Der verlorene Freund: Roman (German Edition)
Abstecher zum Bach, wo Jonathans Freund noch immer die Kuh abschrubbte, und den restlichen Nachmittag wartete ich ungeduldig darauf, etwas anderes zu hören als das Suhlen der Schweine auf dem Gelände nebenan, die Glut der Siesta und Davisons Satz, nur wenige Schritte entfernt in Eisenlettern geschrieben, der sich wieder und wieder Gehör verschaffte, vielleicht weil er so schön rund und bündig klang, in einem Dorf, das Felsen umschlossen. Irgendwann hatte ich das Gefühl, dass die Sonne die Dielen im Zimmer bog, ihre Holzfasern versengte und ihnen ein leises Knarren entriss, doch dann merkte ich, dass ans geschlossene Fenster geklopft wurde, das die Hitze aussperren sollte. Eine Hand erschien und verschwand wieder, und als ich öffnete und ihn unten hocken sah, die Mütze in den Nacken geschoben, der Blick unruhig, suchten meine Augen das Mädchen auf dem Gelände.
»Mister«, sagte Jonathan, ohne sich aufzurichten, während er ein Stöckchen in den Händen zerbrach. »Tun Sie mir einen echten Freundschaftsdienst?«
Ich stand am halb geöffneten Fenster und schwieg, horchte auf den stockenden Atem des Jungen und auf das, worum er mich bitten würde, sein Gesicht und seine Hände voll Schmutz.
»Geht nicht um Geld, Mister. Ist bloß ein kleiner Gefallen«, sagte er, ohne den Blick von den Gänsen zu wenden, die hinten aus dem Gang hervorkamen.
»Du musst das Mädchen zurückbringen«, sagte ich.
»Aber sie will nicht.«
»Du musst sie zurückbringen«, beharrte ich.
Jonathan rieb sich den Kopf.
»Gehen Sie heute Abend zum Schuppen beim Riesenrad und sagen Néstor, um eins, an der alten Straße.«
Er griff nach meiner Hand, schüttelte sie zweimal und schlüpfte wie eine Maus über das Wellblech, das die Mauer zum leeren Gelände bedeckte. Dann sah ich ihn in der Ferne über einen Zaun springen, und obwohl ich den Onkel, der am anderen Ende des Gangs hämmerte, hätte rufen oder das Polizeirevier verständigen müssen, hielt mich die Trägheit der Siesta zurück, irgendetwas in dieser dicken Woge heißer Luft, die aus der Höhle zu mir drang, in der sich der Junge und die Stumme, voller Vertrauen und ohne Chance, ewige Liebe schworen oder was auch immer sie zur Flucht getrieben hatte. Ihr Versteck war nicht zu orten, ja ich wusste nicht einmal etwas über das Leben, das Sandra mit der Mutter und der Kuh führte, nichts von dem, was sie hinter sich lassen wollte, aber es genügte ein Blick auf die trügerische Ebene, die die Berghänge hinanstieg, um zu wissen, dass dort in irgendeiner Niederung oder einem Hohlweg der Stollen war, in dem sich die Illusionen verbargen, die sie früher oder später würden aufgeben müssen. Aber vielleicht vertraute ich demJungen zu sehr, und mit diesem Zweifel schloss ich das Fenster.
Um halb sechs Uhr abends füllten die Einheimischen allmählich die Gehwege mit Stühlen, Kindern, Hunden. Aus dem Lokal des Gesellschaftsclubs drang muntere Musik, deren Grund, wie sich ein paar Stunden später herausstellte, der Samstag war, samt seinen jungen Männern mit ihren bunt besetzten Gürteln, den Halstüchern und Ausgehmützen. Sie sammelten sich vor dem Club, wo in der Nacht getanzt werden würde, drehten sich einhändig Zigaretten, während die vorbeifahrenden Motorräder sie in Staub hüllten.
Nur, um mir die Zeit zu vertreiben, ging ich zur Schlucht und stieg hinunter zum Bach. Kuh, Junge und Wachmann waren weg, ich trat in mehrere Öffnungen und Stollen, die sich ihren Weg unter dem Dorf bahnten und halb unter Wasser standen, und als ich es müde war, im Gestrüpp herumzuschnüffeln, und die Sonne allmählich unterging, machte ich mich zum Arbeiterclub auf. Im Theater drängten sich die Einheimischen vor langen Tischen und lauschten aufmerksam dem großen, bleichen Mann auf der Bühne, der die Nummern ausrief, die ein Mädchen ihm reichte. Das Mädchen zog bloß die Kugeln aus der Trommel, aber der Mann deklamierte so theatralisch, dass er den Vorhang zum Leuchten brachte, als wäre er neu. Das Lokal war randvoll, ein Mann stimmte gerade eine Gitarre, und es gab keinen einzigen freien Tisch, also ging ich zur Theke, bestellte ein Bier, Ellbogen an Ellbogen mit einem Krüppel, der sein Weinglas zwischen den Fingern drehte. Kurz darauf erkannte ich den Richter an einem der Bingotische, schläfrig vornübergebeugt, oder vielleicht hatte er bloß Mühe, die Nummern zu lesen. Ich wollte schon zu ihm gehen, als mich zwei Männer ablenkten, die über Aiaches Jähzorn sprachen.
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