Der verlorene Freund: Roman (German Edition)
uns die Sache zum Thema einer endlosen Diskussion.«
Beppo glaubte, dass Hansen sich den Text auf dem Schild notiert hatte, weil er es von Anfang an hatte loswerden wollen. Nur aus dem Grund habe er das Datum, den Namen, die Worte der Hinterbliebenen aufgeschrieben und folglich, nach Beppos bescheidenem Verständnis, bereits von vornherein gewusst, dass er es bereuen würde. »Manchmal glaube ich sogar, dass er den Wortlaut festgehalten hat, damit er es später bereuen kann. Das Kreuz war ihm weniger wichtig.«
»Na gut, nehmen wir an, er hat es nicht verloren«, sagte Santana plötzlich. »Er hat das Schild also aus dem Autofenster geworfen. Wenn er sich einen Wandschmuck mit nach Hause nehmen wollte, musste er nichts weiter aufschreiben. Aber weshalb hat er den Schildtext notiert? Damit er die Stelle wiederfand, falls bei seiner Rückkehr ein anderes Kreuz dort stehen sollte.«
»Nico«, unterbrach ihn der Richter und schob ein Glas beiseite, »der Mann kam mit einem neuen Schild hierher, er hat das Gold nicht angerührt. Von hier hat er nichts weiter mitgenommen als sich selbst.«
»Und das Kreuz.«
»Aber er hat es zurückgegeben.«
»Eben das verstehe ich nicht.«
»Wenn du wüsstest, wozu die im Süden fähig sind.«
»Ich war auch schon in Montevideo«, verteidigte sich Santana.
»Und, was hast du gesehen? Sag, was du gesehen hast.«
Der Kommissar riss die Augen auf, wusste nicht, worauf er hinauswollte.
»Du hast eine Million Menschen gesehen, die ihr Leben ändern möchten, andere Möbel, anderes Badezimmer, andere Frau. Warum sollten sie nicht ihre Meinung über ein Kreuz ändern?«
»Das wissen wir nicht.«
»Ich bin kein Hellseher, ich weiß nicht, wozu Hansen ein namenloses Kreuz brauchte, es sei denn, unser Freund hier will es uns sagen. Wissen Sie es?«, unterbrach er sich und beugte sich zu mir. Ich schüttelte den Kopf.
»Na siehst du«, fuhr der Richter fort. »Nicht einmal sein Freund weiß es. Und da willst du es wissen, mit deinem sturen Hundskopf?«
»Dieser Hundskopf denkt besser als dein alter Kürbis«, entgegnete der Kommissar und lehnte sich zurück.
Dann diskutierten sie, warum Hansen keinen Anwalt hatte anrufen wollen, warum er einen Stuhl verrückt hatte, vom Balkon gesprungen war. Zeitweise vergaßen sie mich, musterten einander und gingen noch einmal die offenen Fragen durch. Währenddessen wollte mir nicht aus dem Kopf, wie er in Montevideo seinen erzwungenen Ruhestand hatte verbergen müssen, vor mir, vor jedem, der ihm über den Weg lief. Der Vorfall hatte ihn ins Abseits geschoben und gewiss deprimiert, und wenn ich nicht gemerkt hatte, wie bedrückt er gewesen war, hatte ich nicht weiter geblickt als Santana und Beppo, meine beiden Freunde aus dem Hansen-Club, unbekannterweise. Ich überließ mich ihren Worten, während ihre Stimmen im Samstagstrubel anschwollen, unter dem Klacken der Billardkugeln und dem Klirren leerer Flaschen.
Der Kommissar räumte ein, dass Waldemar womöglich von Friedhöfen besessen gewesen war, aber nicht, dass er das Kreuz mitgenommen hatte, weil es ihm gefiel. »Er hätte ein Foto davon machen können«, sagte er. »Aber er wollte es nicht anschauen.«
Schneller, als ich gedacht hatte, zeigte die Uhr zehn, und mir fiel ein, dass fern vom Lokal, vom allgemeinen Radau im Club und in den Dorfstraßen Jonathan erwartete, dass ich seinen Auftrag erfüllte. Einen Moment lang vergaß ich die Diskussion, dachte, wie geringe Chancen der Junge und die Stumme hatten, den beiden Männern zu entkommen, die da mit hochgekrempelten Ärmeln redeten, ohne an sie zu denken, und ebenso wenig den beiden Frauen, die sie zu Hause voll Ungeduld erwarteten. Ich wollte ihnen nicht noch mehr Kummer bereiten, konnte mich aber auch nicht entschließen, die Pläne des Jungen zu verraten, der sich an ein Vertrauen klammerte, das mit jeder Stunde schwerer wog, vor sich den verschreckten Blick der Stummen, die ihm mit aufkeimender Hoffnung folgte, vielleicht mit dem Stolz, ihm ihren gerade herangereiften Frauenkörper anzubieten.
Wie auch immer die beiden den Moment erwarten mochten, zur alten Straße zu gehen, für mich entschied der Alkohol. Ich machte mich auf den Weg zur Toilette, der Wirt deutete auf den Gang zum hinteren Teil des Clubs, und als ich das Pissoir verließ, genügte ein Blick auf den Drahtzaun, der weiter hinten das Nachbargrundstück abtrennte, um ihn zu übersteigen und über einen schmalen Weg auf die Straße zu gelangen. Gegenüber unterhielten
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