Der verlorene Freund: Roman (German Edition)
Er sagte, er habe es zu Hause an die Wand gehängt.«
»Das stimmt«, bestätigte ich.
»Haben Sie es gesehen?«, fragte mich der Kommissar.
»Die Umrisse an der Wand, denn es hing neben dem Kamin, später hat er sie überstrichen.«
»Warum das?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht wollte er nicht, dass ich danach frage.«
»Ich will Ihnen etwas sagen«, Santana beugte sich wieder vor. »Bei mir im Esszimmer hängen ein Foto von Gardel und ein Bild vom Cerro Batoví, das meine Nichte gemalt hat, sehr hübsch. Als befände sich der Batoví über dem Fernseher. Aber das Bild ist nicht der Berg. Und Gardel ist nicht Gardel. Hätte ich Gardels Schlapphut, ich würde ihn wohl ins Esszimmer hängen, aber was wollte Hansen mit dem Kreuz eines elenden Gauchos, wenn es nicht aus einem anderen Grund für ihn wichtig war, den er nicht zugab?«
»Er hat geglaubt, dass er den wahren Grund verheimlicht«, fuhr der Richter fort, »und mir fiel auf, dass er das Schild zwar verloren hatte, sich aber Wort für Wort an den Text erinnerte. Ist das nicht seltsam? Ich fragte ihn, wie das möglich sei, und er sagte, er habe ihn aufgeschrieben. Und wozu hatte er ihn aufgeschrieben? Darauf wusste er keine Antwort.«
Aus dem Theater kam Gejohle. Jemand hatte ein Bingo, und eine Woge von Stimmen brandete auf, die zusammen mit dem Fernseher, dem Lärm im Lokal und dem Klacken der Billardkugeln einen dichtenGeräuschnebel bildete, über den Hansens Schweigen einen Schatten warf.
»Etwas verheimlichte er«, sagte der Kommissar, »und es war offensichtlich, dass ihn Friedhöfe interessierten. In seiner Kamera fand ich viele Engelsfotos. Wo er sie aufgenommen hatte? Auf dem alten Friedhof von Paysandú, erwiderte er. Sie gehen also von Friedhof zu Friedhof und machen Fotos? Er nickte, wissen Sie?«
»Grabkunst«, sagte ich, »samt ihren Künstlern, ihren Italienern, ihren Preisen …«
»Und stiehlt man die Engel von den Friedhöfen?«
»Nein.«
»Aber Hansen hat Gabinos Kreuz mitgenommen. Hat er alles eingesteckt, was ihm gefiel?«
»Betrachten Sie es als Irrtum.«
»Einverstanden, aber was für eine Art von Irrtum?«
»Da bin ich mir nicht sicher«, entgegnete ich und musste an sein plötzliches Erschrecken denken, von dem er Verónica erzählt hatte.
»Von Kunst verstehe ich nichts, aber ich kann ein Kreuz von einem Toten unterscheiden. Konnte das Hansen auch?«
»Natürlich.«
»Und wenn er es mit den Kreuzen hatte, warum hat er sich kein Kruzifix genommen?«
»Nun gut, das ist etwas anderes.«
»Zweifellos. Die Frage ist, ob er das auch wusste.«
»Sehen Sie, ich weiß nicht, worin sein Irrtum bestand. Die Leute irren sich, auch in den ernstesten Dingen. Ich habe keine Ahnung, was ihm durch den Kopf ging, aber wenn es in der Kunst etwas Geheiligtes gibt, dann ist es ein Original.«
Der Kommissar lehnte sich wieder zurück. Für einen Moment dachte ich, dass ich ihn aus der Fassung gebracht hatte, und spürte, auf was für einem schmalen Grat ich wanderte.
»Sie meinen, Hansen …«, schaltete sich der Richter ein, »hat eine ehrwürdige Sache mit der anderen verwechselt?«
»Ich sage nur, bei ihm wäre das möglich gewesen.«
»Er kam, um zu stehlen«, unterbrach Santana. »Wir haben nie erfahren, was, und deshalb hat Ihr Freund uns beiden keine Ruhe gelassen. Jetzt kommen Sie daher und erzählen, er sei vom Balkon gesprungen, und nun glaubt er, dass ihm das recht gibt.«
»Na komm, alles muss ein Ende haben …«, beschwerte sich der Richter und breitete die Arme aus, ein Lächeln auf den Lippen, die Brauen wirr, während die Augen in ihren Schlitzen hin und her huschten.
»Sie haben nicht erzählt, was weiter mit ihm geschah«, unterbrach ich.
»Nach drei Tagen tauchte ein schwarzer Landrover auf«, fuhr der Kommissar fort, »aus dem stiegen ein Staatsanwalt aus Rivera, ein Polizist, ein junger Mann im Anzug und zuletzt eine Frau mit Stock,die behauptete, seine Schwester zu sein. Vermutlich hatte man sie aus Rivera benachrichtigt, denn auch er war überrascht.«
»Überrascht? Er fuhr zusammen und wand sich hin und her, als hätten wir ihn eben erst gefasst. Soll ich Ihnen die Wahrheit sagen? Ich befürchtete einen Fluchtversuch. Die Frau hatte etwas Einschüchterndes. Sie tauschten kaum einen Blick, wir erledigten mit dem Staatsanwalt die Formalitäten, und sie nahmen ihn mit. Ich glaube, in Rivera mussten sie eine Kaution bezahlen, und wir haben ihn nie wiedergesehen. Aber wie Sie bemerkt haben, wurde zwischen
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