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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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fühlte er sich plötzlich schwach und lehnte sich an die Mauer.
    Der älteste der Männer in Blau, ein untersetzter Chinese in Shans Alter, saß auf dem Brettertisch und machte sich einenSpaß daraus, mit Steinen auf mehrere der Altarfiguren zu werfen, die man in drei Metern Entfernung auf dem Rand des defekten Springbrunnens aufgestellt hatte. Ein anderer, ein schlaksiger junger Han mit Pomade im Haar und kaltem Hohnlächeln auf dem Gesicht, beobachtete einen Tibeter mittleren Alters, der eine Schubkarre voller Erde schob. Shan sah, wie die Karre dem Mann entglitt und umkippte.
    »Elende Heuschrecken!« fluchte der junge Han. Heuschrecken. So wurden die Tibeter von manchen Chinesen abfällig bezeichnet. Es war eine Anspielung auf das Geräusch ihrer eintönig gesummten Mantras. Der junge Kerl trat nun erst gegen die Schubkarre und dann gegen den Oberschenkel des anderen Mannes. Im nächsten Moment stellte Shan sich zwischen den mürrischen Han und den erschöpften, verängstigten Tibeter.
    » Thuchechey «, flüsterte der Tibeter. Danke.
    Der junge Han trat erneut zu, diesmal in den Erdhaufen, so daß Shan einige Krümel ins Gesicht geschleudert bekam. Als Shan sich aufrichtete, kam ihm etwas an dem wütenden, leeren Blick des Jugendlichen vertraut vor. Der junge Mann, genau wie all die anderen Han in Blau, war selbst ein Häftling, ein Kalfaktor, der dabei half, die Tibeter anzuleiten.
    Shan ignorierte die grimmige Miene des Han und betrachtete noch einmal den Hof. Nun erkannte er mehrere der Tibeter. Er hatte sie zuletzt bei dem chorten gesehen, in den Ruinen von Zhoka. Demnach waren einige der Festteilnehmer verhaftet worden. Shan eilte ins Gebäude. Er wollte unbedingt wissen, was Yao zu Direktor Ming sagen würde.
    Der Inspektor stand im Eingang des großen Raums, den Shan noch vom letzten Besuch kannte, und starrte verblüfft auf den Gang hinaus. Ming saß an dem langen Tisch einer betagten Tibeterin gegenüber und redete schroff auf sie ein. Weitere fünfzehn Tibeter saßen auf der anderen Seite des Flurs am Boden und wurden von zwei bewaffneten Soldaten bewacht. Mehrere der Leute weinten. Andere hatten den Kopf gesenkt und ließen ängstlich ihre Gebetsketten durch die Finger gleiten. Alle schienen mindestens siebzig Jahre alt zu sein.
    Ming nickte Yao zu und erklärte die Unterredung mit verächtlicherGeste für beendet. Ein Soldat trat aus dem Schatten und zerrte die Frau weg.
    Während Yao sich auf Shans altem Platz am Ende des Tisches niederließ, bezog Shan zwei Meter hinter ihm im Halbdunkel Position. An der angrenzenden Wand hatte man parallel zum Tisch die Fotos tibetischer Gemälde aufgehängt. Sie alle zeigten unterschiedliche Erscheinungsformen der Todesgottheiten. Keine davon entsprach dem thangka , das Shan aus Lodis Trauerhütte kannte. Daneben hingen Blätter von dem großen Schreibblock, der zuvor auf der Staffelei gestanden hatte. Prinz Kwan Li lautete die Überschrift der ersten Seite, offenbar gefolgt von einem chronologischen Lebenslauf, seit der Geburt im Jahre 1755 bis zu einem Eintrag, der schlicht besagte, man habe Kwan Li zuletzt einen Tagesritt südlich von Labrang gesehen. Labrang lag viele hundert Kilometer im Norden.
    »Es wurde bereits ein Suchtrupp nach Ihnen ausgeschickt«, verkündete Ming.
    »Wir haben uns verirrt«, entgegnete Yao ruhig.
    Ming schien das amüsant zu finden. Er schaute zu Shan. »Trotz Ihres berühmten Führers?«
    »Wir sind den Spuren sehr viel tiefer in die Berge gefolgt, als zunächst erwartet«, erklärte Yao. »Unser Funkgerät hat den Geist aufgegeben.« Er sah zu den alten Tibetern. »Was machen Sie mit diesen Leuten?«
    Ming ignorierte die Frage. »Haben Sie ihn gefunden? Den Dieb?«
    Yao zögerte, schien sich zu Shan umdrehen zu wollen, hielt dann aber inne. »William Lodi ist tot«, sagte er langsam.
    Direktor Ming starrte Yao unschlüssig an, als frage er sich noch, ob er dem Inspektor glauben solle. Dann setzte er zu einer Äußerung an. Im selben Moment ertönte ein Geräusch, als würde jemand stolpern, und dann ein gedämpfter Schrei. Ming verzog das Gesicht, schien zur Tür eilen zu wollen, erstarrte und senkte den Kopf.
    »Haben Sie die Artefakte aus seinem Besitz sicherstellen können?« fragte er gespannt.
    »Nein«, sagte Yao lakonisch.
    »Also ist Lhadrung für Sie zu einer Sackgasse geworden, Inspektor«, stellte der Museumsdirektor fest. »Und auch für den Amerikaner.«
    »Aber keineswegs«, widersprach Yao. »Es beweist, daß wir

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