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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Skulptur. »Diese Dinger dienen als Behältnisse. Für Botschaften oder Schriften der Mönche. Und auch für Hinweise auf Bergschreine. Wir vergleichen das mit den Angaben der Pilgerbücher und ermitteln die häufigsten Übereinstimmungen. Ich habe ein Suchmuster entwickelt, und meine Assistenten geben die Daten in unsere Computer ein.« Er deutete mit sichtlichem Stolz auf ein Team am Ende des Tisches. Dort saß ein Mann mit Lederschürze, dicken Handschuhen und Mundschutz an einer Kreissäge. Ming gab ihm den Bronzebuddha. Der Mann betätigte einen Fußschalter, und die Säge erwachte kreischend zum Leben. Dann schob er die Figur behende mehrmals über das Sägeblatt und reichte sie an eine junge Han-Chinesin mit modischer Kurzhaarfrisur weiter, die an einem Nebentisch saß. Die Frau nahm eine Kneifzange und bog die Ränder des klaffenden Einschnitts auseinander. Ein halbes Dutzend Gegenstände fiel in den Korb, der vor ihr stand: mehrere kleine, mit getrockneten Grashalmen verschnürte Papierrollen, ein schwarzer Metallstab, ein Knochensplitter und ein türkisfarbener Stein. Sie arbeitete mit kalter Präzision, warf den Stein, den Metallstab und den Knochensplitter in einen Abfallbehälter zu ihren Füßen und gab die Papierröllchen einer weiteren Kollegin, einer gutgekleideten Tibeterin, die neben ihr saß.
    Diese durchschnitt mit einer Schere die Verschnürung des ersten Zettels, entrollte ihn, las ihn schnell und warf ihn in einen Eimer unter dem Tisch. Danach nahm sie einen Stofffetzen, untersuchte ihn kurz mit einer Lupe und warf ihn ebenfalls weg. In diesem Moment kam der schmierige junge Chinese,den Shan zuvor bei der Schubkarre gesehen hatte, und ersetzte den Kübel durch ein leeres Exemplar. Dann alberte er mit dem Eimer voller Gebete, Amulette und Relikte herum, balancierte ihn kurz auf dem Kopf und verleitete einen der Posten, die gelangweilt an der Mauer lehnten, zum Lachen. Schließlich ging der junge Han quer über den Hof davon.
    Erschrocken sah Shan, welches Ziel er ansteuerte: ein stählernes Faß, in dem ein Feuer brannte. Zu beiden Seiten standen zwei Wachen. Sie wirkten aufmerksamer als die anderen Soldaten, denn ihnen war eindeutig nicht entgangen, wie die tibetischen Häftlinge das Faß ansahen. Manche waren wütend, andere verängstigt, und einigen liefen Tränen über die Wangen.
    Ming kehrte in das Gebäude zurück. Shan blickte ihm hinterher. Der Direktor zerstörte nicht bloß kleine Statuen, sondern gleichzeitig den Ort, der für viele Menschen Andacht und Hoffnung bedeutete. Die meisten der Altarfiguren, vor allem diejenigen voller Gebete und Artefakte, waren seit Generationen im Gebrauch. Dort in dem Faß verbrannten die Gebete der Großväter und Urgroßväter, die direkte und verehrte Verbindung zu den Vorfahren aus früheren Zeiten. In manchen Familien war es Brauch, daß jedes Mitglied im Laufe seines Lebens mindestens ein Gebet beitrug, ein geheimes Gebet, dessen Entstehung bisweilen Jahre dauerte, als wäre es ein Kunstwerk. Dies sei ihre ganz persönliche und seit Jahrhunderten lückenlose Kette des Mitgefühls, hatte eine alte Frau einst Shan zugeflüstert, während sie vor dem Familienaltar saßen. Lückenlos, bis Direktor Ming aus Peking gekommen war, um nach einem seltsamen Wandgemälde und einem seit zweihundert Jahren vermißten Adligen zu suchen.
    Der junge Han blieb drei Meter vor dem Faß stehen, ließ den Eimer sinken und reckte ein zusammengerolltes Gebet hoch in die Luft, so daß alle es sehen konnten. Dann holte er wie ein Basketballspieler zum Wurf aus und beförderte das Blatt in weitem Bogen in die Flammen. Einige der Wachen jubelten. Er wiederholte die Nummer, entrollte dann ein drittes Gebet und schwenkte das knapp einen Meter lange Papier hin und her.Shan schob sich langsam durch die Menge voran, während der Jugendliche ein weiteres Papier nahm, beide Streifen wie Flatterbänder schwang und so tat, als würde er tanzend in einer chinesischen Parade marschieren.
    Shan nahm den Eimer und ging damit auf das brennende Faß zu, als wolle er nur behilflich sein.
    »He!« rief der Junge. »Alter Mann! Ich bin noch nicht fertig!«
    Shan gab sich überrascht, wirbelte herum und ließ dabei den Eimer los, so daß er drei Meter weiter zwischen den sitzenden Tibetern landete.
    Der Jugendliche starrte Shan wütend an, sagte jedoch nichts. Er wurde aus seinem Gegenüber nicht schlau. Shan war weder Tibeter, noch trug er die grobe blaue Kleidung eines Kalfaktors. Aber

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