Der verlorene Sohn von Tibet
uns am richtigen Ort aufhalten. Nun müssen wir nur noch Lodis Mörder finden.«
Ming runzelte die Stirn. »Wo ist Agent Corbett?«
»Noch immer in den Bergen.«
Ming warf Shan einen vorwurfsvollen Blick zu. »Man könnte das als Fahrlässigkeit auslegen.«
Yao ignorierte den Kommentar und musterte abermals die verängstigten Tibeter. »Mir ist nicht ganz klar, was Sie mit diesen Zivilisten vorhaben, Genosse Direktor.«
»Während Ihrer Abwesenheit habe ich eine Reise nach Lhasa unternommen. Zum Büro für Religiöse Angelegenheiten. Sehr hilfsbereite Leute. Ihre Arbeit wird in Peking nicht ausreichend gewürdigt. Sie haben mir manches über Tibet erläutert, das ich bis dahin nicht verstanden hatte. Ich habe festgestellt, daß der Posten des Direktors für den Bezirk Lhadrung unbesetzt ist.«
Shan hielt angespannt den Atem an und fühlte erneut Mings kalten Blick auf sich ruhen. Die Stelle beim Büro für Religiöse Angelegenheiten war seit mehr als einem Jahr verwaist, weil der frühere Amtsinhaber aufgrund von Shans Ermittlungen vor einem Erschießungskommando gelandet war. »Es hieß, in Ermangelung eines ständigen Direktors liege die Amtsgewalt offiziell bei Oberst Tan, aber man gab mir einen Brief für Tan mit, in dem mir vorübergehend leitende Befugnisse eingeräumt werden, damit ich meine Untersuchung durchführen kann.«
Shan sah, wie Yaos Finger sich fest um die Stuhllehne schlossen. Meine Untersuchung.
»Dann hat man mir ein paar Methoden beigebracht.«
Shan wollte schon auf die alten Tibeter zugehen, doch die Worte ließen ihn innehalten. Er wandte sich wieder zu Ming um. »Methoden?« fragte er schaudernd.
Ming sah ihn an und lächelte kühl. »Die dürften Ihnen vertraut sein, Genosse.« Er deutete auf den Tisch. »Bitte nehmen Sie Platz. Es gibt Tee.«
Eine junge Soldatin brachte ein Tablett. Shan setzte sich, nahm eine der Porzellantassen und lauschte Mings weiteren Ausführungen.
»Das Religionsbüro hat vor allem auf zwei Dinge hingewiesen. Erstens, tibetische Schätze werden niemals zufällig irgendwo deponiert. Zweitens, die Staatsgutverordnung.« Yaos und Shans verwirrte Mienen schienen Ming aufrichtig zu erfreuen. »Wenn tibetische Widerständler ein Artefakt stehlen, werden sie es nicht einfach verstecken. Sie fühlen sich an überholte Traditionen gebunden, an die reaktionäre Kultur der alten Lamas, von denen sie einst versklavt wurden. Der Aufbewahrungsort eines Artefakts wird gemäß diesen Traditionen ausgewählt. Es geht also nicht um beliebige, sondern um sehr spezielle Höhlen oder Schreine, die der jeweiligen Gottheit entsprechen.«
»Und zu welchem dieser Orte paßt das Wandgemälde des Kaisers?« fragte Yao mit eisiger Stimme.
»Zu dem wichtigsten und mächtigsten Schrein. Dem heiligsten Ort des Bezirks Lhadrung.« Ming zündete sich eine Zigarette an und blies eine Rauchwolke in die Richtung seiner greisen Gefangenen. Dann beugte er sich vor und sprach leise weiter. »Dem Büro liegen Studien vor, die beweisen, daß bei einer Person, die ihre Kindheit in dermaßen großer Höhe verlebt, die Entwicklung des Gehirns beeinträchtigt wird. Diese Leute sind alle wie Kinder.« Er wies mit der Zigarette auf die alten Tibeter, die draußen am Boden saßen. »Und man muß wissen, wie man mit Kindern zu sprechen hat.« Er schaute zu Shan. »Nicht wahr, Genosse Shan?«
»Sie haben eine Verordnung erwähnt«, merkte Yao an.
»Die Staatsgutverordnung«, bestätigte Ming. »Eine der Richtlinien des Büros. Alle religiösen Artefakte sind Eigentum des Staates. In manchen Teilen Tibets wurde die Durchsetzung dieser Vorschrift offenbar eher nachlässig gehandhabt.«
»Und die Leute hier auf dem Gang?« fragte Shan und achtete auf Yao. Der Inspektor hatte den alten Tibetern den Rücken zugewandt, als wolle er sie nicht sehen.
»Sie sind diejenigen, die am inbrünstigsten an den altenBräuchen festhalten, und daher wissen sie auch am meisten über die verborgenen Schreine. Das ist viel effizienter, als in alten Leitfäden für Pilger nach Informationen zu suchen.«
Ming stand auf und führte sie mit siegreichem Lächeln zurück auf den Innenhof. »Ich fürchte, die Leute horten noch jede Menge gesetzeswidriger Artefakte«, sagte er mit Blick auf den Brettertisch und die zahlreichen Altarfiguren. »Diese dort wurden allein hier im Tal konfisziert.« Er nahm eine kleine Bronzestatue des Zukünftigen Buddha, drehte sie um und zeigte Yao einen Schlitz in der Unterseite der hohlen
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