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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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einer der beiden Wächter am Faß schien ihn wiederzuerkennen. Mit ein paar schnellen Schritten erreichte er Shan und hieb ihm den Gewehrkolben in die Kniekehlen.
    Shan stürzte zu Boden und verschränkte schützend die Hände im Nacken, ein Reflex, den er sich während der Jahre im Gulag angeeignet hatte.
    Doch es kam kein zweiter Schlag. Der Posten wich zurück. Der Junge fuhr mit seinem merkwürdigen Tanz fort, fuchtelte mit den Papieren herum, trat Erde in Shans Richtung und versenkte mit einer letzten schwungvollen Gebärde die beiden Gebete im Feuer. Als Shan aufblickte, schaute er in die feuchten Augen einer Tibeterin, die mit zitternden Fingern ihre mala umklammert hielt.
    »In manchen Teilen Chinas verbrennen die Menschen Gebete, um sie auf diese Weise zu den Göttern aufsteigen zu lassen«, sagte er leise auf tibetisch. Die Frau nickte und lächelte bekümmert. Er sah, daß sie eine der Gebetsrollen an sich genommen hatte. Neben seiner Hand lag ein weiteres Exemplar. Er schob es unter das Bein der Frau und somit aus dem Sichtfeld des Wachpostens, der versuchte, den Inhalt des umgestürzten Eimers wieder einzusammeln. Der Soldat fand nicht mehr als zehn alte Gebete, richtete sich fluchend auf und leerte den Eimer in das brennende Faß.
    »Lha gyal lo«, rief eine heisere Stimme aus der Menge.
    »Bzzzz«, lautete die Antwort des jungen Mannes, der dabei seine Arme wie Flügel schwang, um sich über die Tibeter lustig zu machen. »Bzzz. Bzzzzzzz.«
    Das Geräusch einer schweren Tür, die sich am anderen Ende des Hauptgebäudes öffnete und wieder schloß, unterbrach die Vorstellung. Als eine schlanke, rothaarige Gestalt erschien, verstummten die Wachen und Kapos schlagartig. Elizabeth McDowell, bekleidet mit T-Shirt und Jeans, trat mit Eimer und Schöpflöffel aus dem Schatten und ging zu den Tibetern auf dem Hof. Der wütende junge Han schien zu vergessen, womit er beschäftigt gewesen war, und starrte einfach nur die Britin an. Ihre Augen waren geschwollen und ihr Blick zu Boden gerichtet. Niemand regte sich oder sprach ein Wort, während sie den Eimer bei den Tibetern abstellte und wieder ins Haus ging.
    In diesem Moment sah Shan den Inspektor mit in die Seite gestemmten Händen am Eingang stehen und ihn wütend mustern. Shan kehrte in das Gebäude zurück.
    Im Konferenzraum befragte Ming soeben einen alten Mann. Ein Soldat zeichnete das Verhör mit einer Videokamera auf. Der Alte zitterte, und seine Worte kamen ihm nur schluchzend über die Lippen. »Es gibt keine Schätze mehr. Und auch keine Götter.« Er rieb sich mit dem Handrücken über die Augen. »Das Zeitalter der Götter ist vorbei.«
    In Shan brandeten dermaßen starke Gefühle auf, daß ihm schlecht wurde. Er hielt sich den Bauch und verließ das Zimmer.
    Niemand hielt ihn auf, als er vorbei an den geparkten Fahrzeugen durch das Tor des Anwesens trat. Der Soldat, Tans Sergeant, der Yao und Shan unterwegs aufgelesen hatte, saß an das Hinterrad seines Lasters gelehnt und schlief. Shan folgte der trockenen staubigen Straße hundert Meter bis zum Waldrand und ließ sich vor dem Stamm einer Schierlingstanne nieder. Von hier aus konnte er die andere Seite des Tals sehen, die steilen zerklüfteten Hänge in vielen Kilometern Entfernung, über die man nach Zhoka gelangte. Irgendwo dort draußen waren Gendun, Corbett und Lokesh, und wegen der Diebstähle inPeking und Amerika drohte ihnen Gefahr. Shan starrte zu Boden und versuchte sich zu beruhigen, um nicht mehr an die gequälten Gesichter von Mings tibetischen Gefangenen denken zu müssen.
    Unwillkürlich vergrub er beide Hände in der Erde, als wolle ein Teil von ihm sich dort festklammern. Er schloß die Augen. Nach einer geraumen Weile stieg ihm ein schwacher Ingwergeruch in die Nase, ein flüchtiger Duft, der aus einem Raum seiner Erinnerung gedrungen war, weil dessen Tür sich einen Spalt geöffnet hatte. Mit traurigem Lächeln schloß Shan die Hände zu Fäusten, zog sie aus dem Boden und legte die sandige Erde vor sich hin. Er strich die beiden Häuflein glatt und zeichnete dann etwas mit dem Finger hinein, ohne nachzudenken, geleitet vom Unterbewußtsein, so wie sein Vater es ihn als Meditationstechnik gelehrt hatte. Das erste Zeichen glich einem umgekehrten Y mit langem Schweif, im Innern eines großen U. Auf dem zweiten Fleckchen Erde war eine komplexere Figur entstanden, die er nun geistesabwesend ein zweites Mal mit dem Finger nachzog.
    »Wofür stehen die?« fragte eine ruhige

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