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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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scheinen mochte, das Kleidungsstück stammte von einem Angehörigen der chinesischen Kaiserfamilie. Die hufförmigen Manschetten entsprachen dem Stil der Mandschu-Dynastie Qing. Und in Liyas Beutel lag ein Dokument des Kaisers Qian Long, ebenfalls aus der Qing-Dynastie.
    »Es ist sehr hübsch«, sagte Fiona und legte das Gewand zurück in die schützende Filzhülle.
    »Ja«, stammelte Shan. »Haben die beiden Eindringlinge danach gefragt?«
    »Nicht nach der Robe, aber ich sollte ihnen sagen, was ich über den chinesischen Prinzen weiß.«
    »Welchen Prinzen?«
    »Kwan Li«, antwortete sie ganz sachlich.
    »Was ist mit ihm?«
    Sie zuckte die Achseln. »Er wird vermißt. Aber ich hab so getan, als würde ich ihn nicht kennen.«
    Jetzt erst schien Fiona die Personen vor der Tür zu bemerken. »Hast du Freunde mitgebracht? Ich mache uns Tee.«
    »Eine ist mehr als eine Freundin«, sagte Shan und verspürte ein jähes Schuldgefühl, weil er vergessen hatte, wer dort wartete. »Bitte verzeih mir. Sie ist hergekommen, um dir zu helfen.« Noch während er sprach, schaute ein kleines neugieriges Gesicht zur Tür herein. »Um ihrer Großtante zu helfen.«
    Fionas Augen füllten sich mit Tränen. Sie streckte die Arme aus. Dawa lief los und fiel ihr um den Hals.
    Draußen stand Yao vor den tönernen tsa-tsa -Tafeln, die Shan bei seinem ersten Besuch gesehen hatte. Sie lagen immer noch in einer Reihe, waren aber alle zermalmt, als sei jemand vorsätzlich über die zerbrechlichen Gottheiten marschiert.
    Als Shan und Yao um zwei Uhr nachmittags beim Gästehaus eintrafen, herrschte dort rege Betriebsamkeit. Sie waren unterwegs von einem Militärlaster aufgelesen worden, und der Fahrer, ein Sergeant aus Tans Truppe, hatte ihr plötzliches Erscheinen sogleich aufgeregt über Funk weitergemeldet. Yao, der seit ihrer morgendlichen Diskussion nachdenklich und schweigsam geblieben war, warf Shan immer häufiger kurze Blicke zu, je näher sie dem Anwesen kamen. Dann öffnete er auf einmal den kleinen Beutel, den er seit einer Stunde umklammert hielt, riß die hintere Umschlagseite des Katalogs ab und reichte sie Shan. Es war die Liste mit den bezahlten oder zu zahlenden Dollarbeträgen. Dann gab er Shan drei der sechs Disketten, die er aus Bumpari mitgenommen hatte, und bedeutete ihm, er solle sie einstecken. Er teilte das Beweismaterial unter ihnen auf.
    Warum überließ der Inspektor ihm dermaßen wichtige Unterlagen? fragte sich Shan, als sie auf das Gelände einbogen. Eswar, als sei Yao unvermittelt zu dem Schluß gelangt, Ming könne nicht mehr getraut werden. Womöglich fürchtete er den Direktor sogar. Yao hatte keine Fragen gestellt, als Fiona ausführlicher schilderte, wie der Überfall auf ihr Haus abgelaufen war. Aber er hatte sich sorgfältig die Beschreibung der beiden Täter notiert: ein kleiner Chinese mit krummer Nase und ein großer Mongole, der süßlich riechende Zigarren rauchte.
    Auf dem Innenhof arbeiteten mindestens dreißig Leute mit Schubkarren, Eimern, Hämmern und Besen. Das zweisprachige Schild, das den Ort als Gästehaus des Bezirks Lhadrung ausgewiesen hatte, war einem neuen und größeren Exemplar gewichen. Außenstelle des Museums für Altertümer lautete die obere der beiden Zeilen aus erst kürzlich gemalten, dreißig Zentimeter hohen Ideogrammen. Büro für Religiöse Angelegenheiten stand darunter.
    Während der Sergeant mit Yao im Hauptgebäude verschwand, blieb Shan an der Tür stehen und ließ den Blick über den Hof schweifen. Soldaten der Armee, Tans Soldaten, überwachten Tibeter, die an der hinteren Mauer und auf der anderen Seite des Hofs arbeiteten. Zwei Tibeter und ein stämmiger Soldat, der seinen Waffenrock abgelegt hatte, ließen Vorschlaghämmer auf ein großes, gewölbtes Stück Metall niedersausen. Es handelte sich um das Haupt einer imposanten Buddhastatue, die vor der Rückwand gestanden hatte. Die Männer trieben Beitel ins Metall und spalteten den Hinterkopf. Auf einem langen provisorischen Tisch, der aus Brettern auf Sägeböcken bestand, lagen mehrere Dutzend kleinerer Artefakte, vornehmlich die Statuen von Gottheiten und Heiligen, wie sie normalerweise die Hausaltäre tibetischer Familien zierten. Einige gepflegt wirkende Han-Chinesen beiderlei Geschlechts schienen ungefähr zehn chinesische Männer zu beaufsichtigen, die blaue Arbeitsmonturen trugen und zum Teil damit beschäftigt waren, entlang der Wand einen Graben auszuheben. Shan starrte die Arbeiter verwirrt an. Dann

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