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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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tiefes Becken.
    Als Shan die Stelle mit der verblichenen Aufschrift erreichte, leuchtete er sie ein weiteres Mal mit seiner kleinen Lampe ab und erkannte, daß es über den Schriftzeichen ein kleines Gemälde gab. Zwei Männer in Mönchsgewändern saßen auf dem Gipfel eines Berges. Einer von ihnen trug den kegelförmigen Hut eines Lehrers.
    »Leben«, krächzte eine vertraute Stimme hinter ihm. Dort stand Lokesh fast knietief im kalten Wasser, hielt sich mit einer Hand am Seil fest und wies auf die alte Schrift. »Und Natur«, fügte er hinzu. Er verstummte, betrachtete das Abbild des Lama und seines Schülers und lachte leise. »Er gibt dem Novizen ein Lehrrätsel auf.«
    »Was ist die Natur des Lebens?« murmelte Shan. Als er sich umdrehte, um den anderen die Worte zu erklären, sah er, daß Lokesh das Seil losgelassen hatte und in das schwarze Becken am Fuß des Wasserfalls blickte. Der alte Tibeter wirkte plötzlich heiter und gelassen, und sein Mund hatte sich zu einem Lächeln verzogen.
    »Wir kennen die Natur des Lebens«, sagte er und beugte sich vor, bis der Sturzbach auf sein Haupt prasselte.
    »Nein!« schrie Shan und sprang vor, um seinen Freund zu packen.
    Doch es war zu spät. Lokesh breitete fröhlich die Arme aus, ließ sich nach vorn fallen und verschwand in der dunklen Tiefe. Die Natur des Lebens war, sehenden Auges in einen Brunnen zu stürzen.

Kapitel Zwölf
    »Er hat sich umgebracht!« rief Liya. »Der Wasserfall wird ihn unter die Oberfläche drücken!« Doch man sah im schwarzen Wasser niemanden wild um sich schlagen. Nichts deutete mehr auf Lokesh hin.
    Die furchtbare Stille nach Liyas Worten wurde jäh durch eine hastige Bewegung unterbrochen. Ko entriß Corbett die Lampe, stieß Yao gegen die Wand und sprang an genau der gleichen Stelle wie zuvor Lokesh ins Wasser.
    Shan war vor Schreck wie gelähmt und registrierte nur undeutlich, daß Corbett fluchte und Dawa in Tränen ausbrach. Dann setzte er den Rucksack ab, zog seine Jacke aus und trat vor. Er schaute sich nicht mehr um, sondern umschloß mit festem Griff die Taschenlampe und ließ sich in die Tiefe fallen.
    Das brodelnde, eiskalte Wasser packte seinen Körper und riß ihn immer weiter in den schmalen, finsteren Schacht. Das Becken schien keinen Boden zu haben, und auch die Seitenwände wichen zurück. Mit den Beinen und seiner freien Hand stieß Shan sich ab, mit der anderen leuchtete er voraus. Aber da war nichts. Lokesh und Ko, die beide mehr Kleidung am Leib getragen hatten, sanken vermutlich immer noch und fielen in die Schwärze, bis ihre Lungen platzten und jede Rückkehr unmöglich wurde. Die alten Landgötter, klagte eine Stimme in seinem Kopf. Lokesh hatte die uralten Landgötter aufgesucht, und nun würden sie weder ihn noch Ko je wieder freigeben. Dann merkte Shan, daß auch ihm die Luft ausging. Er schwamm nach oben, spürte die Kälte, kämpfte gegen die Panik an und durchstieß in einer dunklen Kammer die Wasseroberfläche. Keuchend sog er die kühle Luft ein, fürchtete im ersten Moment, die Dunkelheit könne ihn wieder hinabzerren, und hörte dann ein seltsames Schluchzen.
    Er schwamm auf einen winzigen Lichtfleck zu, traf auf eine schwarze Felswand und stemmte sich aus dem Becken. Das Schluchzen kam ganz aus der Nähe. Shan wischte sich das Wasser aus dem Gesicht und kniff die Augen zusammen. Da saßen Lokesh und Ko. Aber sie schluchzten nicht, sie lachten. Sie hatten sich die Schuhe abgestreift und wrangen ihre Socken aus.
    Ko bemerkte ihn als erster, und sofort verwandelte sich der freudige Gesichtsausdruck in eine finstere Miene.
    »Willkommen im wahren Zhoka«, rief Lokesh und richtete seine Lampe auf die Wände.
    Eine Minute später war Shan wieder im Tunnel und berichtete den anderen aufgeregt von der Entdeckung. »Dies ist das Nordtor«, bestätigte er. »Die Kammer ist voller Bilder und Worte.« Er schilderte kurz, wie geschickt die alten Baumeister mitten im Wasserbecken eine Querwand errichtet hatten, so daß es nun aussah, als würde ein Bach über natürlich gewachsenen Fels hinabstürzen. Nur unten in der Mitte war ein Schacht für all jene Pilger freigeblieben, die eine Antwort auf das Lehrrätsel fanden.
    »Ich kann nicht schwimmen«, klagte Liya, als ihr klar wurde, was Shan von ihnen verlangte.
    »Das brauchst du auch gar nicht«, versicherte er. »Du läßt dich einfach fallen und bewegst dich auf die Lichter zu. Lokesh und Ko werden ins Wasser leuchten. Wir müssen lediglich unsere Ausrüstung

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