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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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der Inspektor und zeigte auf Abdrücke in der trockenen Erde, »und da drüben weiche Schuhe. Die Stiefel haben hier gelauert und sind vorgesprungen. Dann gab es einen Kampf, und der mit den Schuhen ist getürmt.« Er deutete über eine Mauer hinweg, auf deren Krone weitere Blutstropfen zu sehen waren. »Unmöglich zu verfolgen.«
    Sie aßen in angespannter Stille. Yao legte soeben die Decken aus, und Shan las in dem Pilgerbuch über Zhoka nach, als Ko einen leisen verängstigten Fluch ausstieß und sich an die nächstbeste Wand drückte. Shan drehte sich um und sah eine Gestalt im Schatten neben einem der Felsen stehen. Corbett fachte das Feuer an, und Yao schaltete eine der Elektrolampen ein. Shan nahm eine Decke und ging zu dem Neuankömmling.
    »Wir haben dich vermißt«, sagte er.
    Lokesh nickte nur und murmelte etwas Unverständliches. Shan brachte ihm Tee, aber er wollte nicht trinken. Corbett reichte ihm einen Apfel, den der alte Tibeter ebenfalls ablehnte. Am Ende setzte Dawa sich einfach zu ihm und hielt seine Hand, bis beide eingeschlafen waren.
    »Da war doch eine Belohnung auf mich ausgesetzt«, sagte Shan, während er und der Amerikaner das ungleiche Paar betrachteten. »Ich bin von selbst aufgetaucht, also sollte ich die hundert Dollar bekommen.«
    »Nun ja …«, setzte Corbett zögernd an.
    »Ich werde das Geld Lokesh geben, damit er davon Busfahrkarten für Dawas Eltern kauft. Sie sollten heimkehren.«
    Corbett lächelte. »Es wird den amerikanischen Steuerzahlern eine große Ehre sein.«
    Als Shan bei Tagesanbruch erwachte, saß Lokesh mit übergeschlagenen Beinen auf einer der Mauern und schaute hinaus auf die Ruinen. Nein, sah Shan, als er sich dem alten Freund näherte. Lokesh betete. Seine Hände waren zu einer rituellen Geste vereint, die Shan nun genauer in Augenschein nahm. Lokesh benutzte dieses mudra nicht häufig. Die rechte Hand lag quer über der Linken, wobei Mittelfinger und Daumen sich jeweils berührten, als wolle er mit den Fingern schnippen. Es warein Kriegersymbol und diente zur Anrufung einer zornigen Gottheit.
    Shan setzte sich neben seinen alten Freund und suchte nach Worten. Mehr als einmal wollte er einen Satz anfangen, hielt jedoch stets wieder inne, so daß jedesmal nur der erste Laut über seine Lippen drang und wie ein leises Stöhnen wirkte.
    »Wo bist du all die Stunden im Fels gewesen?« fragte er schließlich.
    »Getroffen habe ich niemanden. Ich habe alte Gemälde besucht und mich in jede Kammer gesetzt, die ich finden konnte. Es war sehr dunkel. In einer solchen Finsternis kann man manchmal nur schwer erkennen, was sich bewegt – man selbst oder die Welt um einen herum?«
    Shan musterte seinen Freund. Lokesh stellte noch immer Ermittlungen an, suchte auf andere Weise und bemühte sich, die wahre Natur des rätselhaften gompa zu erspüren.
    »Gendun ist dort drinnen«, sagte Lokesh.
    »Das wissen wir nicht mit Bestimmtheit.«
    Lokesh seufzte. Shans Worte schienen ihn zu enttäuschen. »Nicht so, wie der Inspektor Dinge weiß. Aber er ist dort drinnen. Er tut, was Surya tun wollte. Er gibt Zhoka die alte Bedeutung zurück. Falls es noch nicht zu spät dafür ist.«
    Shan blickte auf die Ruinen. Manch einem wären Lokeshs Worte wie Hexerei vorgekommen, manch anderem wie seniles Geschwafel. Shan verstand selbst nicht, was genau Gendun in den dunklen Winkeln des alten buddhistischen Ortes der Macht zu tun gedachte. Er vermutete, daß es bei der Rückgabe von Zhokas Bedeutung letztlich darauf ankam, die Menschen zu ändern, die rund um das Kloster lebten. Vielleicht bestand gar kein so großer Unterschied zu den Handlungen jener Mönche, die den Tempel der Erdbändigung ursprünglich errichtet hatten. Es war, als sei Gendun hineingegangen, um einen alten Ofen zu finden, dessen Kohlen zuletzt vor vielen Jahrzehnten geschürt und nachgefüllt worden waren. Nun wollte er den letzten Rest Glut anfachen, bevor sie erlosch. Aber wie sollte jemand – sogar die heiligen Männer von Yerpa – es überhaupt schaffen können, einen solchen Ort zu erneuern?
    Shan begriff immer noch nicht ganz, wofür Zhoka einst gestanden hatte. Vielleicht war dies das größte Geheimnis, aus dessen Enträtselung sich alles andere ergab. Es handelte sich um einen Ort von großer historischer Relevanz, mit starker Magie, mit Heiligen und Gottheiten und sogar mit der Verbindung zu einem fernen Kaiser in einer fernen Zeit. Ein Ort, für dessen Schutz die alten Tibeter ihr Leben hergeben

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