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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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hier kein Wasser gäbe, was dann? Wir wären trocken«, grübelte er. »Uns wäre wärmer.« Er hielt inne und sah sich noch einmal im Raum um. »Wir wären in der Lage, uns einen Reim auf das da zu machen.« Er richtete seine Lampe nach oben.
    Die Decke verlief nicht waagerecht, sondern war in zweistark gewölbte Kuppeln unterteilt, die sich in der Mitte an einer langen geraden Naht trafen und nur eingesehen werden konnten, wenn man sich direkt darunter befand. Corbett und Shan erblickten die aufgemalte Seitenansicht eines weißen Schneeleoparden. Das Tier besaß ein türkisfarbenes Brustfell und hatte das Maul in traditioneller Weise aufgerissen, was zwar grimmig, aber eher wie ein Lachen als wie ein Fauchen aussah. In seiner Pfote hielt es behutsam einen winzigen Mönch.
    »Eine halbe Raubkatze«, rief Yao von gegenüber. »Um das Vorderbein ist eine Kette aus Schädeln gewickelt.«
    Dort oben wachte also ein zorniger Schutzdämon, dessen Leib auf beide Hälften der Decke aufgeteilt worden war.
    Nachdem sie die Kammer eine weitere Viertelstunde untersucht hatten, ohne auf ein anderes Rätsel oder eine Deutungsmöglichkeit des Sutra-Zitats zu stoßen, wagten sie sich in den westlichen Tunnel vor. Yao zählte unterwegs die Schritte und blieb oft stehen, um die Kartenskizze zu ergänzen, die er auf seinem Notizblock festhielt. Sie kamen nur langsam voran. Die innere Wand war mit zahlreichen Kapellen versehen, manche winzig und nicht einmal zwei Meter breit, andere doppelt so groß, alle mit prächtigen Malereien geschmückt und einige mit Altären ausgestattet, auf denen kleine Heiligenfiguren standen, Buddha-Variationen in Bronze, Kupfer, Silber und Gold.
    Lokesh nahm sich Zeit und besuchte jede einzelne der Kapellen. Shan und Yao fanden ihn im dritten der Räume, wo er vor einem thangka voller Schutzdämonen saß. Liya stand neben ihm. »Jemand war kürzlich hier«, sagte sie und wies auf eine steinerne Halterung auf dem Altar. Dort lag ein Häuflein Asche, der Überrest eines Weihrauchstäbchens.
    »Das könnte schon ewig her sein«, sagte Yao.
    »Nein, man kann es noch riechen«, widersprach Liya. »Es ist frisch. Und es hat eine Butterlampe gebrannt.«
    »Aber das habe ich doch schon erklärt«, sagte Lokesh. »Gendun war hier. Er weiß, wie man die Götter zurückbringt.«
    »Ich hätte nicht gedacht … so ganz allein in den Höhlen …«, flüsterte Liya und schien dann schaudernd Lokeshs Behauptung zu akzeptieren.
    Nachdem sie die ersten sechs Kapellen untersucht hatten, erklärte Corbett, daß es Stunden dauern würde, jedes einzelne Kunstwerk zu betrachten. »Falls der Korridor tatsächlich in Kreisform angelegt ist, können einige von uns doch ruhig vorausgehen. Wir werden uns schon nicht verirren oder später nicht mehr wiederfinden.«
    Yao war der gleichen Meinung. »Sofern wir innerhalb der nächsten Stunde nichts entdecken, kehren wir um«, warnte der Inspektor und trat auf den Gang hinaus. »Das hier ist keine archäologische Expedition. Wir suchen nach Verbrechern.«
    Nach Verbrechern, die Altertümer stahlen, hätte Shan ihn beinahe erinnert. Mit einem letzten Blick auf Lokesh, der sich abermals in eines der Gemälde vertieft hatte, folgte er Yao. Hatte Surya einen Zugang zum Mandala-Palast gefunden? überlegte er. Stellte es einen Verrat an den alten Tibetern dar, nun Fremde in den heiligen Tempel zu führen? Einerseits hielt Shan fortwährend Ausschau nach Gendun, andererseits fürchtete er, was geschehen würde, falls Yao und Corbett auf den alten Lama stießen. Oder auf den Bergbuddha.
    Als sie die Felstrümmer des eingestürzten Westtors erreichten, leuchtete Shan in die obere rechte Ecke des Korridors, wo sie auf der anderen Seite der Barriere das wachsame Auge vorgefunden hatten. Nun sah er, daß es sich um das letzte in einer Reihe von mehr als zwei Dutzend Augen handelte. Über ihnen gähnte ein schwarzes Loch an der Stelle, wo die Deckenplatte herabgestürzt war und den Gang blockiert hatte. Unter den Augen befand sich das riesige Wandgemälde einer grimmigen Schutzgottheit, die eine Kette aus Schädeln trug. Shan hatte dieses Motiv schon häufig gesehen, doch dieses spezielle Exemplar wies einen kleinen Unterschied auf: Über der Schulter des zornigen Gottes lag ein winziger weißer Leopard und hielt eine Lotusblume. Shan wies Yao darauf hin.
    »Vielleicht eine Signatur des Künstlers«, vermutete der Inspektor.
    »Tibetische Künstler signieren ihre Werke so gut wie nie. Es könnte ein

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