Der verlorene Sohn von Tibet
wohl Ihr Mandala errichten? In der Erde.« Shan wies in Richtung des Tunnels, der hinab zum Freskenraum führte, und rahmte den Kreis am Boden durch zwei waagerechte Linien ein, wobei die obere für den eingestürzten Gang auf der anderen Seite der Ruinen stand. Dann bat er um Corbetts Kompaß. »Diese Korridore liegen auf einer Ost-West-Achse.« Er belegte es anhand der Kompaßanzeige. »Ein traditionelles Mandala besitzt vier Tore – je eines pro Himmelsrichtung –, die mit komplexen Symbolen und unterschiedlichen Farben verbunden sind. Die Gestaltung der Tore hängt von der Gottheit im Zentrum ab.« Shan schaute fragend zu Lokesh. »Wenn es um die Bändigung der Erde geht, muß es der Herr des Donnerkeils sein.« Lokesh nickte. »Demnach ist das Osttor weiß, der Süden gelb und der Westen rot. Und hier«, sagte Shan und bezeichnete auf dem Kreis einen Punkt, der genau zwischen Osten und Westen lag, »ist der Wasserfall mit der alten Inschrift an der Wand. Der grünen Wand. Was der Farbe des Nordtors entspricht.«
»Da unten ist jedoch weder ein Tor noch sonst ein Hinweis auf ein Mandala«, protestierte Yao.
»Dennoch stellt es irgendwie den Weg ins Innere des heiligen Bergmandalas dar«, sagte Shan. »Man hat es aus dem Fels gehauen, und ein Naturphänomen wie der unterirdische Bach wurde mit einbezogen. Dies hier ist der Palast der Künstler, von dem der amban berichtet hat, der Ort voller Geheimnisse.Es wird drei oder vier Ebenen geben, jede kleiner als die vorhergehende und angeordnet in konzentrischen Kreisen.«
Aber als sie mit ihrem Gepäck eine halbe Stunde später durch den schwach erleuchteten Freskenraum kamen, hatte dieser kaum etwas Himmlisches an sich. Dawa, die dort auf den blutverschmierten Surya gestoßen war, barg ihr Gesicht an Corbetts Schulter. Yao hatte einen alten Stab gefunden, hielt ihn wie eine Waffe und ging stets hinter Ko, als rechne der Inspektor jeden Moment mit einem Fluchtversuch des Jungen.
Shan blieb mit Liya an der Wand stehen und beleuchtete die mit Blut gemalte Zeichnung. »Das hat Lodi hinterlassen, als er im Sterben lag. Und darüber hat er ›Höhle des Berggottes‹ geschrieben.«
Die Worte riefen bei Liya eine merkwürdige Reaktion hervor. Sie packte wie zur Warnung Shan am Arm und sah sich um, als hielte sie nach zufälligen Lauschern Ausschau. Dann durchbohrte sie ihn mit einem wütenden Blick.
»Wo ist er?« ließ Shan nicht locker. »Wo ist der Berggott, der goldene Buddha?«
»Das hat nichts mit den gestohlenen Kunstwerken oder den längst toten Kaisern zu tun«, sagte Liya flehentlich.
»Falls ihr versucht, die Häftlinge zu befreien, werden Menschen sterben«, flüsterte Shan verzweifelt. »Viele Menschen.«
»Sie werden sterben, falls wir es nicht versuchen«, zischte sie ihn an.
Als Liya sich abwenden wollte, berührte Shan sie am Arm. »Warte«, sagte er und deutete auf das längliche Oval mit dem Kreis und dem Quadrat darin. Dann griff er in die Tasche. »Gestern in den Bergen ist mir eine Idee gekommen.« Er holte die dzi -Perle hervor, die Liya ihm in Bumpari zugesteckt hatte, und hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger. »Er hat diese Perlen gesammelt, und jede ist mit einem Muster versehen.«
Liya wandte den Blick nicht von der Zeichnung ab. »Du hast recht!« rief sie. »Er hat es wie eine Perle gemalt. Ein Quadrat steht für den Zugang zur Erde, ein Kreis für den Zugang zum Himmel. Eine Erdtür in einer Himmelstür.« Sie klang verblüfft.
»Wollte er dir den Weg ins Innere verraten?«
»Nein«, erwiderte Liya. »Er kannte den Weg nicht, genau wie wir alle. Wir wissen nur, daß der Palast existiert und gerettet werden muß.«
»Vielleicht hatte er inzwischen herausgefunden, wie man zum Bergbuddha gelangt«, mutmaßte Shan. Liya wandte sich ab, als fürchte sie, ungewollt etwas zu verraten. »Oder er wollte ausdrücken, daß jemand anders den Eingang entdeckt hat«, fügte Shan hinzu und ging weiter. Liya blieb zurück und starrte voller Schmerz die Zeichnung an.
Fünf Minuten später lieh Shan sich von Yao den Stab und stieg in den eisigen Bach am Fuß des kleinen Wasserfalls. Um seine Taille war ein Seil gebunden, und Corbett hielt das andere Ende. Dann stocherte Shan mit dem Stab hinter dem Vorhang aus Wasser herum, traf nach etwa anderthalb Metern aber jedesmal auf soliden Fels. Schließlich versuchte er es am Boden jenseits der Abflußrinne und spürte unvermittelt keinen Widerstand mehr. Direkt unter dem Sturzbach befand sich ein
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