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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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würden.
    »Ich bin in jede Meditationszelle gegangen«, sagte Lokesh auf einmal. »Ich bin in jedes Loch gestiegen und habe gehofft, es sei ein Tunnel. Ich habe viele alte Gemälde gefunden, manche mit Motiven, die ich bis dahin noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Wir haben nur einen winzigen Teil dessen gesehen, was seinerzeit erschaffen wurde.«
    »Aber alle Gänge, die tiefer ins Innere führen, sind eingestürzt«, sagte Shan.
    »Ja. Ich habe ein paar enge Korridore entdeckt, die zu Schreinen führen, doch spätestens dann geht es nicht mehr weiter. All diese Räume haben der Vorbereitung auf einen anderen Ort gedient.«
    Corbett brachte jedem eine Schale Tee. Nachdem Lokesh getrunken hatte, blickte er auf und rieb sich die Augen, als sei er eben erst erwacht. »Ich habe den Ausgangsort für Pilger gefunden. Kommt mit!« Dann stieg er von der Mauer und steuerte mit forschem Schritt eine Ruine in knapp fünfzig Metern Entfernung an. Die anderen folgten ihm. Shan hatte den riesigen Schutthaufen für eine zerstörte Halle gehalten, doch der Saal war nicht vollständig eingestürzt, und Lokesh hatte einen schmalen Durchgang ins Innere entdeckt.
    Sie stiegen eine enge Treppe hinab und betraten eine Kammer, in der Geister wohnten. Jeder Zentimeter von Wänden und Decke war mit den Abbildern grimmiger Schutzdämonen bemalt worden. Yao zog sein Exemplar des Pilgerleitfadens aus dem Rucksack und schlug ein paar Seiten um. »Neuankömmlinge dürfen den Erdtempel nur durch den Garten der Dämonen betreten, die ihn auf allen Seiten und am Himmel bewachen.«
    Yao blickte nach oben und fixierte einen blauen Dämon überseinem Kopf. »Dies ist der Ort, an dem du dein Leben zurückläßt, denn nur so kannst du dahinter das Himmelreich erlangen. Habe Angst, oder gehe nicht zu den vier Toren weiter. Werde rein, oder du wirst nicht wissen, was Himmel und was Hölle ist. Sei stets ein Pilger, oder du wirst nicht erblicken, was du suchst.«
    »Der Pilger meditierte über die Dämonen, um rein zu werden«, erklärte Shan.
    »Und ist dann zu den vier Toren des Mandalas hinabgestiegen«, sagte Lokesh.
    »Aber da waren nur zwei Tore«, meldete sich eine Stimme aus den Schatten hinter ihnen. Der Strahl von Corbetts Lampe richtete sich auf Liya, die dort an der Wand saß. Eine Seite ihres Gesichts hatte sich dunkel verfärbt, und eine lange Rißwunde auf ihrer Wange war mit Schorf verkrustet. Dawa lief zu ihr und umarmte sie. Liya streckte abwehrend eine Hand aus, als wolle sie keine Hilfe. »Ich bin nicht wirklich verletzt. Die haben mich überfallen, dieselben beiden Kerle. Dem Kleinen habe ich die Wange zerkratzt, als er mich packen wollte. Da hat er zugeschlagen, und ich bin weggelaufen.« Sie richtete sich auf und sah Shan an. »Zwei Tore, nur zwei Treppen nach unten.«
    Lokesh griff in die Tasche und holte etwas hervor. »Ich habe das bei dem Wasserfall gefunden. Ich glaube, es ist von oben herabgefallen, wo jetzt nur noch Schatten herrscht.« Er gab Shan ein kleines Stück Stein von knapp fünf Zentimetern Länge.
    Shan ließ es über die Handfläche rollen, sah Lokesh fragend an und betrachtete es genauer. Eine Seite war grün angemalt. Shan und der alte Tibeter lächelten wissend, und dann bedeutete Shan den anderen, sie sollten ihm nach draußen folgen. Dort zeigte er ihnen, daß der Tunneleingang sich auf einer Linie mit dem Ende der eingestürzten Halle befand. »Wahrscheinlich war das alles ein einziges Gebäude, so daß der Pilger schon beim Eintritt in die Dämonenkammer das Gefühl bekam, sich im Innern der Erde zu befinden.« Er hockte sich hin und zog einen Kreis in den Staub.
    »Der Kreis ist eines der wesentlichen Symbole der tibetischen Tradition. Er stellt die Grundlage des Mandalas dar«, erläuterteer. »Beim Bau eines Klosters spielte Symbolik eine sehr große Rolle und wurde von vornherein in die Architektur integriert. Zahlreiche alte gompas verfügten über drei- oder viergeschossige Zentralgebäude, die auf dem Schema des Mandalas basierten und es auf diese Weise in die dritte Dimension erhoben, um heilige Gebirge zu repräsentieren oder auch den Aufstieg zum Berg Meru, dem Nabel des Universums und Scheitelpunkt des Himmels.«
    »Aber alles hier wurde zerstört«, wandte Corbett ein. »Selbst wenn es einen Mandala-Palast gegeben haben sollte – die Armee hat ihn in Schutt und Asche gelegt.«
    »Falls Sie versuchen wollten, die Erdgottheiten zu erreichen und die Dämonen der Erde zu bezwingen, wo würden Sie

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