Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
Vom Netzwerk:
schützen.«
    Corbett leerte die Rucksäcke und brachte mehr Seil sowie zwei dicke Plastikbeutel zum Vorschein, die eigentlich als Unterlagen für die Schlafsäcke dienen sollten. Als er anfing, nun alle Vorräte und auch die Rucksäcke in den Beuteln zu verstauen, hielt Shan ihn zurück. »Ihre Kleidung. Das Wasser ist eiskalt. Lassen Sie genug Platz für die Kleidung, damit Sie etwas Trockenes zum Anziehen haben.«
    Yao sah ihn entgeistert an.
    »Sie schwimmen am besten in Ihrer Unterwäsche«, sagte Shan. »Es ist dunkel, niemand wird etwas sehen. Folgen Sie dem Licht.«
    Corbett packte grinsend zwei T-Shirts für Dawa und Liya ein. Dann band er sich das lange Seil um den Leib und erklärte, er werde als erster gehen. Yao sollte das Ende des Seils halten, damit Dawa und Liya sich daran entlanghangeln konnten. Danach würden sie die beiden Beutel zu sich herüberziehen.
    Zehn Minuten später befanden sich alle auf der anderen Seite und bereiteten Tee zu, nachdem Corbett ihnen gezeigt hatte, wie man den kleinen Gaskocher aus Shans und Yaos Gepäck benutzte. Während Dawa nachschaute, ob es auch ein paar trockene Kleidungsstücke für Shan, Ko und Lokesh gab, leuchtete Yao die Kammer mit seiner Lampe ab. Das Becken bildete ein längliches halbes Oval, in dessen gerundeter Rückwand zwei Treppen aus dem Fels gehauen waren. Sie führten zu Gängen, die nach Osten und Westen verliefen.
    »Der kreisförmige Tunnel«, sagte Yao, als Shan sich zu ihm gesellte. »Wir befinden uns im Innern Ihres Mandalas.« Er wandte sich zu dem schwarzen Wasserbecken um. »Von den Pilgern wurde doch wohl nicht erwartet, daß sie auf diesem Weg hineingelangen.«
    »Es gab viele Wege«, warf Lokesh feierlich ein. »Aber jeder war ein Test. Sie haben es selbst aus dem Pilgerleitfaden vorgelesen. Habe Angst, oder gehe nicht weiter. Manche der Pilger mußten sicherlich durch das Wasser tauchen, vielleicht sogar auf ausdrückliche Anweisung der Lamas. Das Herz der Welt kann nicht ohne Mühen erreicht werden. Dies ist der Ort, an dem du dein Leben zurückläßt – so lauteten die Worte.«
    »Was meinen Sie mit ›Herz der Welt‹?« fragte Yao.
    »Das Mandala ist eine Erscheinungsform des Universums. Die Essenz der Welt.« Er musterte Yao mit neugieriger Miene.
    Der Inspektor runzelte die Stirn. »Sie meinen ein Modell des Universums.« Er klang unschlüssig. »Ein Blendwerk.«
    »Nein«, entgegnete Lokesh sogleich. »Das Gegenteil davon. Noch wirklicher als wirklich.« Er sah Yaos Verwirrung und zuckte die Achseln. »Draußen läßt sich das Universum mitunter nur schwer erkennen. Aber hier …« Er wies auf die Wände, die voller Farben und Formen waren. »Hier ist es in unmittelbarer Reichweite.«
    Dawa drängte sich an Lokesh, griff nach seinem Arm und betrachtete die zahlreichen Gemälde.
    »Acala, Tamdin, die Torwächter«, sagte Lokesh glücklich und wehmütig an zwei der Abbilder gewandt, als begrüße er alte Freunde. Er ging langsam weiter und blieb vor dem lebendigen Porträt einer von Flammen umgebenen Gestalt stehen, die einen Stab und einen Mungo hielt. »Der König des Nordens«, erklärte er und strich im Abstand von wenigen Zentimetern mit der Hand darüber, so wie Shan es in dem Steinturm bei Gendun beobachtet hatte. Lokeshs Augen schienen regelrecht zu erstrahlen. Er rieb beide Handflächen aneinander und beugte sich zu Shan. »Es gab Gebete«, flüsterte er.
    Noch bevor Shan den alten Tibeter nach einer Erklärung fragen konnte, ging Lokesh auch schon weiter zu der Wand, die genau gegenüber dem Unterwassereingang lag, und hob seine Lampe. Über einem Gemälde des historischen Buddha stand eine goldene Inschrift. »Wenn jemand sich in den Strom versenkt, der zur Erleuchtung fließt«, las Lokesh, »sagt er dann von sich selbst, ich bin in den Strom gestiegen?« Er sah sich lächelnd um. Es war eine vertraute Zeile; sie stammte aus dem uralten Diamant-Sutra.
    »Muß denn jede Inschrift ein Rätsel darstellen?« fragte Yao genervt. »Und wieso gerade hier?« fügte er hinzu und sprach damit aus, was Shan in diesem Moment dachte.
    »Die Antwort auf die Rätselfrage lautet nein«, sagte Shan langsam. »Denn wer den bewußten Gedanken hat, sich in dem Strom zu befinden, hat noch nicht den selbstlosen Zustand der Erleuchtung erlangt.«
    »Demnach dürfen wir das Wasser nicht beachten«, sagte Corbett mit eifriger Stimme, als würde er sich allmählich für das Spiel erwärmen. Er ging am Rand des Beckens entlang. »Und falls es

Weitere Kostenlose Bücher