Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
Vom Netzwerk:
Zeichen sein, ein Teil des Pfades, der von den Erbauern für die Pilger angelegt wurde.« Shan richtete die Lampeauf einige andere Götterbilder. Mehrere von ihnen hatten ähnliche Raubkatzen auf den Schultern.
    Auf einmal schaltete Yao seine Lampe aus und drückte Shans Arm nach unten. »Hören Sie nur!«
    Auch Shan löschte das Licht. Hinter ihnen trat jemand aus einer der Kapellen. Er benutzte ebenfalls eine elektrische Lampe, hatte sie aber mit einem Stück Stoff verhängt. Shan fühlte, wie der Inspektor ihn beiseite schob, und begriff, daß Yao beabsichtigte, den Eindringling von beiden Seiten in die Zange zu nehmen.
    Die Gestalt kam langsam näher, duckte sich gelegentlich und sah sich bisweilen um, als fürchte sie, verfolgt zu werden. Sobald sie weiterging, richtete sie sich nie vollständig auf, denn sie trug etwas Schweres in der Armbeuge.
    Weiter hinten im Korridor ertönte ein jauchzender Aufschrei. »Gepriesen sei Buddha!«
    Der unerwartete Ruf stammte von Lokesh und ließ die Gestalt herumwirbeln. Dabei richtete sie ihre gedämpfte Lampe nach oben, so daß Kiefer, Wangen und Stirn sich wie eine hohle Maske aus der Dunkelheit schälten. Es war Ko.
    Als Shan und Yao ihre Lichter einschalteten, erschrak der Junge und wirkte kurz verängstigt. Dann erkannte er sie. Sein Körper straffte sich, und er lehnte sich an die Wand, um etwas in seiner Hand zu verbergen, das im Halbdunkel glänzte. Er schürzte verächtlich die Lippen und packte seine Taschenlampe wie eine Waffe.
    »Du solltest vorsichtig sein«, sagte Yao ruhig. »In diesen Ruinen sind Diebe unterwegs.« Shan sah ihn an. Der Inspektor hatte beschlossen, das Offensichtliche nicht deutlich zur Sprache zu bringen. Es schnürte Shan fast die Kehle zu. Ko stahl aus den Kapellen.
    »Mal sehen, was für Spuren du entdeckt hast«, sagte Yao und trat vor.
    Einen Moment lang glich Kos Miene der eines in die Enge getriebenen Tiers, doch die unbändige Wut verwandelte sich in eine starre Fassade und schien in sich zusammenzufallen, als der Inspektor ihm den Gegenstand aus der Hand nahm. Es warein kleiner goldener Buddha von etwa fünfundzwanzig Zentimetern Höhe. Der Sockel der Figur war mit Edelsteinen besetzt.
    »Hervorragend«, sagte Yao und streckte Shan die Statue entgegen. »Das beweist, daß die Diebe diesen Ort noch nicht geplündert haben. Wir können unsere Suche daher anderswo fortsetzen.«
    In Kos Taschen zeichneten sich eckige Objekte ab. Über seiner Schulter hing an einem geflochtenen Band eine vergoldete Trompete. Als Shan sie ihm abnahm, verharrte Ko schweigend und sah zu Boden. »Dieses Instrument wurde aus einem menschlichen Oberschenkelknochen gefertigt, Xiao Ko«, sagte Shan. »Wahrscheinlich stammt er von einem heiligen Mann, der vor vielen Jahrhunderten gelebt hat.«
    Ko blickte angewidert auf, und aus irgendeinem Grund wußte Shan, daß es dabei nicht um den Knochen ging. Ohne weiter darüber nachzudenken, hatte Shan ihn als Kleiner Ko angesprochen, was ein traditioneller Ausdruck der Zuneigung war, wie ihn Väter oder Onkel gebrauchen würden. Sein Sohn mochte Yao dafür hassen, daß er ihm die Beute wegnahm, aber der Abscheu vor Shans Worten wog stärker.
    »Ich heiße Ko«, erwiderte der Junge empört. »Tiger Ko«, fügte er hinzu. So hatte er sich als Bandenmitglied genannt. Dann packte er Shan unvermittelt, stieß ihn gegen die Wand und rannte davon.
    »Kinder«, sagte Yao mit lautem Seufzen und gab Shan den kleinen Buddha.
    Shan schaute Ko in die Dunkelheit hinterher. Sein Sohn würde nicht weit kommen. Der Tunnel beschrieb einen Kreis.
    Auf dem Rückweg blickte Shan in jede der Kapellen und fand im dritten Raum einen leeren, sauberen Fleck, der sich auf dem verstaubten Altar deutlich abzeichnete. »Vergib ihm«, flüsterte er der blauen Gottheit an der Wand zu und stellte die Statue zurück an ihren Platz. »Er wurde nicht gut erzogen.« Auf halber Höhe der Seitenwand ragte inmitten einer Reihe aufgemalter Schädel ein dicker Haken hervor. Shan hängte die kostbare Trompete daran und hielt inne. Der Haken steckte imAuge eines der Totenköpfe. Shan hob die Lampe. In der Augenhöhle eines anderen Schädels gab es ebenfalls ein Loch, das jedem flüchtigen Beobachter entgangen wäre. Neben dem Altar lag ein schmutziger Haken am Boden, dessen Größe der des ersten Exemplars entsprach. Zögernd hob Shan ihn auf. Er wollte hier in den alten Kapellen auf keinen Fall etwas in Unordnung bringen. Der Haken paßte perfekt in die

Weitere Kostenlose Bücher