Der verlorene Sohn von Tibet
Als Liya ihn ansah, deutete er auf die fliehenden Tibeter. »Die Soldaten halten sich womöglich immer noch in den Bergen auf«, stellte er mit finsterer Stimme fest. Liya biß sich auf die Lippe, musterte hilflos die kleine Dawa, reichte den Tontopf dann an Shan weiter und lief in Richtung des Hangs.
»Was war los, Dawa?« fragte Shan, als er sich neben sie kniete. Sie vergrub das Gesicht an der Brust ihres Onkels. »Was hast du gesehen, als du Surya gefolgt bist?« Weder das Mädchen noch Jara schienen ihn zu hören. Dann packte ihn ein jähes Schuldgefühl, denn ihm fiel wieder ein, daß sie vorhin in fragendem Tonfall etwas zu ihm gesagt und er nicht darauf reagiert hatte. Ich glaube, ich kenne den Weg in das verborgene Land, hatten die Worte gelautet. Er stand auf, betrachtete die Ruinen und versuchte sich daran zu erinnern, was Surya im Anschluß an den ersten Kehlgesang getan hatte.
Zwischen ihren Einsätzen vertieften die Sänger sich normalerweise in eine Meditation. Da Surya fortan an diesem Ort leben sollte, hatte er sich hier zweifellos genauer umgesehen als die anderen und vielleicht eine besonders geeignete Stelle gefunden, um dort zu meditieren. Shan folgte dem Pfad, auf dem Dawa ins Halbdunkel verschwunden war, und fand sich wenig später vor zwei Säulen aus Fels wieder, die zu einem der ehemaligen Gebäude gehört hatten.
Shan ging zwischen den Säulen hindurch. Zu seiner Überraschung befand sich dort eine düstere, direkt aus dem Fels gehauene und am oberen Ende von Flechten überwucherte Treppe, deren Stufen durch Jahrhunderte des Gebrauchs in der Mitte ausgehöhlt waren. Trotz einer Breite von fast zweieinhalb Metern konnte man die Stiege nur aus der Nähe erkennen, denn die Wände zu beiden Seiten neigten sich dermaßen weit nach innen, daß sie alle Blicke abschirmten und es zudem riskant erscheinen ließen, sich der Stelle zu nähern. Shan nahm die Mauern genauer in Augenschein. Falls auch nur eine von ihnen einstürzte, wäre er dort unten gefangen. Dawa hatte sich gewiß nicht bis dorthin vorgewagt, und Surya würde sich schwerlich an einen solchen Ort begeben, um zu meditieren. Shan wollte schon kehrtmachen, als er auf der Treppe ein paar feuchte rote Tropfspuren entdeckte. Er stieg hinab in die Dunkelheit.
Es folgten einhundertacht steile, fast dreißig Zentimeter hohe Stufen, bis Shan schließlich in einen düsteren Gang gelangte. Die Hundertacht war eine machtvolle Zahl von großer symbolischer Bedeutung und entsprach der Anzahl der Perlen einer buddhistischen Gebetskette. Es roch nach Ruß und verbrannter Butter. Shan verharrte völlig reglos. Da waren noch andere Gerüche. Ein schwacher, schaler Weihrauchduft, der sich im Laufe der Jahrhunderte vermutlich dank der unaufhörlich schwelenden Kohlenpfannen an den Wänden festgesetzt hatte. Ein kaum wahrnehmbares Teearoma. Und etwas Neueres, Fremdes. Tabak. Sechs Meter weiter den Korridor entlang brannte eine trübe Flamme. Es war eine halb umgestürzte Butterlampe, deren Inhalt sich als schmaler glänzender Bach auf den Felsboden ergossen hatte. Shan stellte das kleine Gefäß aufrecht hin und schöpfte die Butter mit einer Steinscherbe zurück hinein. Dann nahm er die Lampe und folgte dem kühlen Gang. Schon nach wenigen Schritten kamen zwei gegenüberliegende Türöffnungen in Sicht, und kurz dahinter endete der Tunnel an einer massiven Felswand.
Der rechte Durchgang führte in eine winzige quadratische Kammer von nur anderthalb Metern Seitenlänge, die früher zurMeditation oder als Lagerraum genutzt worden sein mochte. Darin stand ein großes Tongefäß mit Wasser, neben dem eine grobe Leinwand lag, die als Decke oder Gebetsteppich gedient haben konnte. Shan hob den Stoff an. Es war ein Sack, geschmeidig, nicht ausgetrocknet, und am unteren Saum mit Plastik vernäht. Große chinesische Ideogramme besagten, daß der ursprüngliche Inhalt Reis gewesen war, abgefüllt in der Provinz Guangdong.
Der zweite Raum maß ungefähr fünf mal fünf Meter und besaß am anderen Ende der rechten Wand einen weiteren, kleineren Durchgang. Shan trat ein und erstarrte. Vor der hinteren Türöffnung schimmerte ein dunkler Fleck. Nachdem Shan den ersten Schrecken überwunden hatte, ging er neben dem Fleck in die Hocke und berührte ihn prüfend mit einer Fingerspitze. Es war frisches Blut.
Shan wischte den Finger am Boden ab, stand auf, reckte die Lampe hoch empor und sah sich im Raum um. Inzwischen konnte er das Blut riechen, vermischt mit einem
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