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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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entdeckte er in einer Ecke der Kammer einen kleinen dunklen Gegenstand. Shan hielt die Lampe dicht daneben. Es war eine Zigarre, der Stummel einer dünnen Zigarre. Shan nahm ihn und hielt ihn sich unter die Nase. Der Tabak verströmte einen ekelhaft süßlichen Gestank, wie Shan ihn noch nie gerochen hatte. Dies war weder ein tibetisches noch ein chinesisches Produkt. Als Shan den Stummel in ein Stück Stoff wickelte, schien ein eisiger Hauch seinen Rücken zu streifen. Er sah sich nach allen Seiten um und stieg dann über die Lache hinweg zurück in den ersten Raum. Dabei fiel ihm in der Mitte der Pfütze der schwache Umriß eines kleinen runden Objekts von knapp vier Zentimetern Durchmesser und der Dicke einer Münze auf. Mit einem Stück Verputz schob er es an den Rand, wickelte es in ein Taschentuch und steckte es ebenfalls ein.
    Auf einmal fing er an zu zittern. Die sonderbaren Ereignisse und vielleicht noch seltsameren Gespräche des Tages gingen ihm durch den Kopf. Vorhin – war das wirklich erst eine Stunde her? – hatte Gendun gesagt, heute sei einer der schönsten Tage seines Lebens. Surya hingegen hatte behauptet, heute werde alles enden. In den Bergen waren angeblich Gottestöter unterwegs. Der heutige Tag sollte den weiteren Lauf der Welt verändern. Zhoka barg Geheimnisse, die nicht unterschätzt werden durften.
    Aus dem dunklen, abschüssigen Tunnel hinter der Blutlache ertönte unvermittelt ein leises, dumpfes Stöhnen. Das war nur der Wind, der sich in einem Felsspalt fing, vermutete Shan, aber er preßte sich unwillkürlich wieder gegen die Wand. Wer oder was auch immer die Leiche weggeschafft hatte, hatte dies erst vor zwanzig oder dreißig Minuten getan und konnte sich durchaus noch in der Nähe aufhalten. Shan reckte die Lampe in Richtung des Geräusches, doch die Flamme flackerte immer stärker, weil der Brennstoff fast aufgebraucht war. Shan lief los. Als er die Treppe erreichte, erlosch die Lampe. Rückwärts gewandt, stieg er dem Tageslicht entgegen und behielt dabei die Finsternis sorgfältig im Auge.
    Die Ruinen draußen waren verlassen, und auf dem Innenhof regte sich nur noch die schmale Rauchfahne, die von der alten samkang aufstieg. Shan lief zum nördlichen Torhof, direkt bei der Schlucht und den Resten der Hängebrücke. Abgesehen von ein paar weißen Flecken auf dem felsigen Boden deutete hier nichts mehr auf eine Feier hin. Shan trat an den Rand des Abgrunds. Irgendwo tief dort unten lagen sein Schnürbeutel und die Bambusdose mit den lackierten Schafgarbenstengeln, die zur Befragung des Tao-te-king dienten und seit vielen Generationen in seiner Familie weitervererbt worden waren. Sie hatten Krieg und Hungersnot überstanden, die Ermordung von Shans Onkeln und seinem Vater durch Maos Rote Garden und sogar Shans eigene Strafgefangenschaft. Doch die schreckliche Furcht eines kleinen Mädchens hatte ihr Ende bedeutet.
    Langsam wanderte Shan zwischen den Trümmern umher, rief nach Lokesh und Liya und fand sich schließlich vor dem chorten wieder. Geistesabwesend zog er den Pinsel aus der Tasche und starrte ihn eine Weile an. Dann fielen ihm jäh die Soldaten wieder ein. Er drehte sich um und rannte los.
    Nach einer Viertelstunde hatte Shan den Gebirgsgrat oberhalb von Zhoka erreicht und erspähte in nordwestlicher Richtung und etwa einem Kilometer Entfernung ein rundes Dutzend gebeugter Gestalten. Er blieb stehen und ließ den Blick über die Landschaft schweifen. Im Norden wurde Zhoka durch die tiefe Schlucht begrenzt. Im Süden ragten steile, schroffe Gipfel auf und schienen abweisend vor dem gefahrvollen Ödland jener Region zu warnen. Die Soldaten hatten sich zuletzt im Nordwesten blicken lassen, zwischen Zhoka und dem Tal von Lhadrung. Als Shan erneut in diese Richtung schaute, glaubte er bei dem alten Steinturm am Ende der Kammlinie ein kastanienbraunes Mönchsgewand aufblitzen zu sehen.
    Weitere zehn Minuten später hatte Shan die langsamsten der flüchtenden Tibeter eingeholt und fragte im Vorbeilaufen jeden einzelnen, wo die Mönche geblieben seien. Die meisten würdigten ihn nur eines kurzen, wütenden Blicks und sahen dann wieder weg. Lediglich eine der alten Frauen, die mit Surya gebetet hatten, streckte nach ängstlichem Zögern den Arm aus und deutete nach vorn.
    Lokesh stand neben der Turmruine auf einem Sims, starrte in den dunklen Eingang des Gebäudes und ließ eifrig die Perlen seiner Gebetskette durch die Finger gleiten. Als Shan ihn erreichte, packte der alte

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