Der verlorene Sohn von Tibet
anderen Geruch, den er im Gulag kennengelernt hatte. Kein wirklicher Geruch, hätte Lokesh eingewandt, sondern eine spirituelle Wahrnehmung, auf die keiner der herkömmlichen fünf Sinne ansprach. Falls man es zuließ, versicherte Lokesh, könne die eigene Seele gleich einem Nachhall den Schatten einer unlängst geschehenen Gewalttat spüren oder die Störung, die eintrat, wenn ein anderer Geist sich mühselig von einem jäh niedergestreckten Körper löste. Shan hätte lieber auf diese Empfindung verzichtet, aber er wußte nicht, wie er sie unterdrücken sollte. Der Tod hatte diesem Raum einen Besuch abgestattet.
Shan fühlte sich plötzlich leer und kalt. Etwas in ihm schrie, er solle zurück an die Oberfläche rennen, und er fand sich dicht an der Felswand wieder, rutschte an ihr hinunter in eine kauernde Stellung, einen Arm mit geballter Faust schützend vor den Kopf gehoben, als wolle er einen Angriff abwehren. Was hatte Atso über Zhoka gesagt? Es sei ein Ort seltsamer und mächtiger Dinge, den man nicht verkennen dürfe. Nein, nicht ganz. Er hatte gesagt, es sei gefährlich, nicht zu begreifen, was Zhoka mit den Leuten anstelle. Shan schloß die Augen und atmetetief durch. Als er den Arm sinken ließ, stieß seine Hand gegen etwas Kaltes. Vorsichtig streckte Shan die Finger aus und bekam einen langen, glänzenden Metallzylinder zu fassen. Es war eine schwere Taschenlampe, wie sie vor allem bei der Öffentlichen Sicherheit beliebt war, denn man konnte sie gut als Schlagstock zweckentfremden. Shan drückte den Knopf kurz vor dem Kopfende der Lampe. Nichts geschah. Seine Finger waren abermals feucht. An dem Zylinder klebte Blut.
Shan ließ die defekte Lampe fallen und schritt den Rand des Raums ab. Die Wände waren einst kunstvoll verputzt und bemalt gewesen. Neben der Blutlache blieb Shan stehen und hob erneut die Butterlampe. An der Wand befand sich das Abbild einer grimmigen Gottheit, die einen umgedrehten Schädel voller Blut hielt. Es war einer der mythischen lokapalas , ein Hüter des Gesetzes. Die Gestalt hatte neun zornige Köpfe und ein Dutzend Armpaare. All ihre Augen waren geblendet worden; manche hatte man sauber ausgestochen, andere weggebrannt, wie mit der Glut einer Zigarette. Der machtvolle Gott wirkte traurig und hilflos, und der Schädel in seiner Hand war leicht zur Seite geneigt, so daß der Eindruck entstand, das Blut am Boden sei in Wahrheit aus dem Gemälde geflossen. Unter dem Bild lagen dicht vor der Wand mehrere dunkle, abgenutzte Perlen. Shan nahm eine und musterte sie bekümmert. Surya hatte die Schnur seiner uralten, seit Generationen weitergereichten mala zerrissen und die Perlen liegengelassen, als würden sie ihm nichts bedeuten.
Eine Spur feuchter roter Flecken verlief von der Lache zum ersten Durchgang und weiter in Richtung Treppe. Suryas Unterarme waren blutüberströmt gewesen, genau wie Dawas Handflächen und die Vorderseite ihres Kleids. Sogar ihre Schuhe hatten blutige Spuren hinterlassen. Shan untersuchte die Abdrücke am Boden. Dawa war ausgerutscht und bäuchlings in die schaurige Pfütze gefallen. Dann hatte sie sich beim Aufstehen abgestützt. Aber die teure Taschenlampe hatte nicht ihr gehört, und das Mädchen wäre nicht ohne Licht hergekommen. Surya mußte sich mit der Butterlampe hier aufgehalten haben. Da Dawa sich bis zu der Blutlache gewagt hatte, mußteSurya jenseits davon, auf der anderen Seite des kleineren Durchgangs, gewesen sein. Shan trat über die Lache hinweg ins Halbdunkel und entdeckte ein wenig abseits einige große Blutstropfen, die ebenfalls von dem Opfer stammen mußten. Der Gang hinter dem Raum verbreiterte sich und verlief leicht abschüssig. Von fern war ein leises Rauschen zu vernehmen; es klang wie Wind. Rechts lag eine kleine Meditationszelle. Als Shan eintreten wollte, stieß er mit dem Fuß gegen einen Gegenstand. Er bückte sich und zuckte zurück. Es war ein Knochen, ein menschlicher Oberschenkelknochen, und er war tropfnaß vor Blut.
Erneut drückte Shan sich dicht an die Wand. Hier hat jemand eine Leiche entbeint, schien eine Stimme in seinem Kopf zu keuchen. Unmöglich, wandte eine andere Stimme zweifelnd ein. Surya hätte gar nicht die Zeit für eine solch gräßliche Tat gehabt. Und außerdem war Surya kein Mörder.
Shan zwang sich, das Fundstück genauer zu betrachten. Das Blut war frisch, der Rest jedoch nicht. Es handelte sich um die Art von Knochen, aus denen traditionelle kanglings hergestellt wurden, die Trompeten der
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