Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
Vom Netzwerk:
tibetischen Zeremonien. An der Wand lehnten noch drei weitere dieser Oberschenkel. Einer der Handwerker von Zhoka mußte sie vor vielen Jahrzehnten dort zurückgelassen haben. Allerdings hatte man ihre Anordnung verändert. Der mittlere Knochen stand senkrecht, und die anderen beiden lehnten dagegen, so daß ein Pfeil entstand, der nach oben auf ein mit Blut an die Wand gemaltes Symbol wies. Jemand hatte ein etwa fünfundzwanzig Zentimeter breites Oval gezeichnet, dessen Längsachse parallel zum Boden verlief. In seinem Zentrum befand sich ein Kreis und darin wiederum ein Quadrat.
    Shan ging auf die Meditationszelle zu und entdeckte, daß in den Boden zwei je zehn Zentimeter lange Rechtecke eingelassen waren, jeweils knapp fünf Zentimeter tief und etwa einen halben Meter sowohl voneinander als auch von der Wand entfernt. Darin hatten ursprünglich vielleicht die Beine eines Altars oder einer Bank gesteckt. In der Zelle lag unter einem verstaubten Stück Sackleinen ein Haufen Schutt. Shan erkanntezerbrochene Töpferwaren und spröde Gerstenkörner, die Jahre, vermutlich aber Jahrzehnte alt waren. Und er sah ein vertrocknetes, gespaltenes Brett von zwölf mal vierzig Zentimetern.
    Die Blutlache ging ihm nicht aus dem Sinn. Irgend jemand war hier gestorben. Aber wo war die Leiche geblieben? Es gab nur die Blutspuren, die Surya und Dawa hinterlassen hatten, und falls Surya den Toten weggetragen hätte, wären seine Robe und sein Untergewand blutgetränkt gewesen. Das Mädchen mußte nach dem Sturz in die Pfütze panisch geflohen sein. Surya hatte, noch weit vom Tageslicht entfernt, die Lampe fallen gelassen, ohne sie zuvor zu löschen und ohne sie wieder aufzuheben. Weil ihn etwas in Angst und Schrecken versetzt hatte. Etwas, das er gesehen hatte? Oder etwas, das er getan hatte? Nein, hielt Shan sich ein weiteres Mal vor Augen, es war unmöglich, daß der sanfte Surya, der häufig Shans Füße segnete, damit sie kein Insekt zertreten würden, auf einmal einen anderen Menschen tötete.
    Shan sah sich den Schutt genauer an. Das Brett war ziemlich stark beschädigt, aber man konnte noch das kunstvolle Schnitzwerk erkennen, die Abbildung einiger Rehe, die zwischen Bäumen umhersprangen. Es handelte sich um den Deckel eines peche , wurde ihm klar, eines traditionellen tibetischen Buches aus losen Seiten. Shan lehnte das Brett an die Wand und hob das Sackleinen an. Darunter lagen weitere Scherben, eine intakte Tonfigur des Mitfühlenden Buddha und dicht vor der Wand ein langes, schmales Stück Pergament, eine Seite aus einem peche . Behutsam nahm Shan das Blatt und las es. Dann blickte er auf und starrte eine Weile in die Dunkelheit. Er las es erneut, drehte es um und untersuchte es sorgfältig im Schein der Lampe. Der Text war alt, stammte aber nicht von den hölzernen Druckstöcken, die üblicherweise bei der Herstellung der peche verwendet wurden, sondern war in blauer Tinte verfaßt, wie mit einem Gänsekiel oder Füllfederhalter. Auf den ersten Blick schien die kühn geschwungene Handschrift der eleganten tibetischen Linienführung zu entsprechen, die bei heiligen Texten Anwendung fand. Aber dieswaren keine tibetischen, sondern englische Worte. Götter werden durch den Tod erneuert, stand dort. Erkenne, dann laß los. Hebe den Pinsel tausendmal tausend Male, dann laß ihn auf den Stein sinken. Heilige Mutter, Heiliger Buddha, Heiliger Geist. Götter werden durch den Tod erneuert.
    Am unteren Rand des Pergaments waren im traditionellen tibetischen Stil weitere Rehe aufgemalt, dazu kleine detaillierte Abbildungen von Yaks. Shan las die Sätze, starrte den blutigen Knochen an und fröstelte. Diese Buchseite schilderte den Tod wie in einem Gedicht oder einer Lobrede. Sie war sehr alt, vielleicht mehr als hundert Jahre. Und sie hatte genau an dem Ort überdauert, an dem heute jemand gestorben war. Ein Zufall, hätte Shan noch vor einigen Jahren gesagt. Doch falls Lokesh bei ihm gewesen wäre, hätte der alte Tibeter feierlich in die Hände geklatscht und erklärt, wie glücklich sie sich schätzen könnten, zugegen zu sein, wenn zwei Schicksalsräder für einen kurzen Moment ineinandergriffen.
    Shan hob aufs neue die Lampe, fand aber keine weiteren Buchseiten, sondern nur jede Menge Tonscherben, Leinenfetzen und etwas, das wie ein verschrumpelter Apfel aussah. Er nahm sich noch einmal das Pergament vor, las die seltsamen und beklemmenden englischen Worte, rollte das Blatt zusammen und steckte es ein. Als er sich aufrichtete,

Weitere Kostenlose Bücher