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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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unschlüssig, als wolle er weitere Argumente vorbringen.
    Shan kam langsam näher und behielt die Mündung der Waffe im Auge. Als er den kalten Stahl der Pistole berührte, zuckte der Amerikaner zusammen, als hätte Shan seine Haut angefaßt. »Wenn ein Mörder stirbt«, sagte Shan, »besteht die Gefahr, daß er niemals zur Schönheit findet.«
    Dolan sah ihn an und schien um eine Erklärung bitten zu wollen, sagte jedoch nichts. Er ließ zu, daß Shan die Waffe nach unten drückte, und folgte ihm hinaus.
    Gleich darauf stand Shan in der Mitte des Nachbarraums, der Unterkunft des Abtes, und sah sich schweigend um. Khan und Lu waren hier gewesen und hatten das thangka mitgenommen. Vier der sieben rituellen Opferschalen standen nicht mehr auf dem schlichten Altar, sondern lagen davor am Boden. Shan hob eine auf und betrachtete sie genau, bevor er sie zurückstellte. »Die Schalen«, sagte er leise und sah zur Wand. »Ich glaube, Khan und Lu haben sie achtlos hingeworfen, weil sie sich als wertlos erwiesen. Sie sind so schwer, als bestünden sie aus massivem Gold, aber es ist nur Blei. In diesen da« – er deutete auf die drei Schalen, die noch auf dem Altar standen – »liegen die vertrockneten Reste der traditionellen Kräuteropfer. In den anderen vier dürfte sich ursprünglich Wasser befunden haben, das längst verdunstet ist.« Er ließ den Blick über die verwirrten Gesichter seiner Begleiter schweifen. »Ich brauche die Wasserflaschen.«
    Corbett und Yao ließen Dolan nicht aus den Augen, während sie zwei Flaschen aus ihren kleinen Rucksäcken holten. Der neue Dolan, der aus dem Labyrinth zum Vorschein gekommen war, wirkte sogar noch beängstigender als zuvor. Er saß auf dem Bett, schaute manchmal kurz herüber, hatte die Arme vor der Brust verschränkt und wiegte sich vor und zurück. Corbett und Yao sahen sich an. Shan fürchtete, sie wollten sich auf Dolan stürzen. Er berührte Corbett am Arm und wies auf die leeren Schalen.
    »Man erlangt hier Zugang zum Himmel, indem man der Gottheit seine Hochachtung bezeugt«, erklärte Shan.
    »Scheiß drauf«, sagte Dolan, erhob sich und richtete die Pistole auf Shan. »Ich bezeuge niemandem meine Hochachtung. Dafür bin ich viel zu mächtig.«
    »Ihre Macht ist nichts im Vergleich zu der Stärke eines alten Tibeters, der sich um die Seele eines chinesischen Mörders bemüht«, sagte Shan.
    Dolans Lippen verzogen sich zu einem stummen Grinsen.
    »Falls Sie nach oben wollen, müssen Sie auf dem Altar ein Opfer darbringen«, fuhr Shan fort. »Sie alle.«
    Dolans Miene blieb unverändert, aber er kam Shans Aufforderung nach und füllte eine der Schalen mit Wasser.
    Als Ko schließlich die vierte Schale auf den Altar stellte, erklang ein dumpfes Geräusch, als sei irgendwo in der Nähe Holz auf Holz geschlagen.
    »Wir haben einige Wände untersucht«, sagte Shan. »Aber es blieb nicht genug Zeit, um jede einzelne Ecke zu überprüfen. Als Dolan nebenan auf das Regal geschossen hat, dachte ich erst, er habe einen hölzernen Buchdeckel getroffen.« Er hielt den Splitter hoch, den er aufgehoben hatte. »Doch die Kugel ist in die Wand eingeschlagen, und die Wand besteht aus Holz. Sie wurde geschickt angemalt, um wie Stein auszusehen.« Er ging zu der Wand neben dem Bett des Abtes und schätzte ab, an welcher Stelle sich nebenan das Einschußloch befinden mochte. Die Oberfläche war mit dem Abbild eines Schutzdämons versehen, der beide Arme nach oben streckte. Shan musterte es, legte beide Hände auf die Hände des Dämons und drückte. Die hölzerne Wand glitt nach innen und gab den Weg in eine kleine, schrankähnliche Kammer frei, an deren hinterem Ende eine einfache Stiege aus grob behauenen Balken nach oben führte. Shan kannte vergleichbare Treppen aus verarmten Tempeln, wo sie zumeist zu höher gelegenen Schreinen führten. Vor vielen hundert Jahren, als die ersten tibetischen Tempel errichtet wurden, hatte man sich womöglich der gleichen Technik bedient.
    Dolan schien auf einmal nur widerwillig hinaufsteigen zuwollen. Er sagte nichts, als Shan voranging, und stand wortlos auf, als Corbett, Yao und Ko ihm die drei Meter hohe Leiter nach oben folgten. Sie kamen in einen kurzen, mit Duftholz vertäfelten Korridor, der vor einem niedrigen Durchgang endete. In einem Regal stand mehr als ein Dutzend bronzener Butterlampen. Ohne darüber nachzudenken, schaltete Shan die Taschenlampe aus, legte sie in das Regal und entzündete eine Butterlampe. Die anderen taten es ihm

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