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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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schweigend gleich.
    Sie zögerten und sahen sich an. Dann bedeutete Shan seinem Sohn, er solle die Führung übernehmen. Schon nach wenigen Schritten wurde ein Geräusch, das wie das Rauschen des Windes klang, immer lauter, während die Luft sich merklich abkühlte. Dann hörten die Seitenwände auf. Ko blieb stehen und schaute nach unten. Auch der Boden war verschwunden. Er stand auf einem einzelnen goldfarbenen Balken, der mit Schnitzereien verziert war, mit Rehen, Vögeln und Blumen. An dem Balken hing ein Seil aus Yakhaar, das in elegantem Bogen in den Schatten hinabreichte. Ko leuchtete zur Seite. Dicht unter dem Balken strömte schwarzes Wasser vorbei.
    »Der Graben«, sagte Shan. »Der symbolische Ozean rund um den Berg Meru im Zentrum des Universums. Danach müßte eine goldene Bergkette folgen.«
    Als Ko sich langsam vorwagte, tauchte hinter ihnen Dolan auf. Auch er hielt eine Butterlampe. Es war der ausgehöhlte, wütende Dolan mit schußbereiter Waffe, und sobald er den goldenen Balken sah, die symbolische Zugbrücke, legte sich ein gieriges Lächeln auf seine Züge.
    Jenseits der Brücke hatte man Podeste aus dem Fels gehauen. Darauf standen sieben mythische Berge aus purem schimmerndem Gold, die offenbar den Gipfeln des Himalaja nachempfunden waren. Der erste maß mehr als einen halben Meter, die anderen immer ein Stück weniger, bis zu dem siebten, der weniger als fünfundzwanzig Zentimeter hoch war. Dolan drückte gegen mehrere der Berge und versuchte, den kleinsten anzuheben, als überlege er sich bereits den späteren Abtransport.
    Plötzlich standen sie in einer runden Kammer von sechs MeternDurchmesser, über der sich eine hohe Kuppel aufwölbte, deren schwarzer Anstrich sie wie einen endlosen Himmel wirken ließ. Ein Stück über ihren Köpfen verlief ein silbernes Band mit den Nachbildungen heiliger Symbole, die je nach Abschnitt aus einem anderen Material bestanden und somit getreu der Tradition die Himmelsrichtungen bezeichneten: im Norden Smaragde, im Osten klare Kristalle, im Süden Gold, im Westen Rubine. Der Boden der Kammer war vom rauschenden Wasser umgeben und erweckte so den Anschein einer Insel im Meer.
    In den Lücken zwischen den vier Richtungsmarkierungen, die dadurch wie Tore aussahen, standen vier kunstvoll geschwungene Altartische. Jeder der Altäre war mit Götterstatuen überhäuft, die man aus Gold, Silber, Lapislazuli und kostbaren Edelsteinen gefertigt hatte. Shan ging an den Tischen entlang und bemerkte, daß das Rauschen immer noch lauter wurde. Als er die Nordmarkierung erreichte, streckte er die Lampe über den Graben aus und entdeckte einen tückischen Strudel von etwa einem Meter Durchmesser. Das Wasser floß dort nach unten ab. Es mußte sich um den Ursprung des Wasserfalls handeln, der letztlich unterhalb von Zhoka mitten aus der Felswand in die Schlucht stürzte.
    Shan wandte sich um und sah, daß die anderen wie gebannt auf die Altäre starrten. Yao stand vor der anmutigsten Statue des historischen Buddha, die Shan je zu Gesicht bekommen hatte, einer sechzig Zentimeter hohen, aus Gold gegossenen Figur mit Augen aus Lapislazuli und einem dermaßen detaillierten Gesicht, daß es vollkommen lebensecht wirkte.
    »Die Mandala-Maschine, genau wie sie der amban beschrieben hat«, flüsterte Yao und betätigte an einem kuppelförmigen Apparat aus Silber und Gold einen Hebel. Der obere Teil öffnete sich wie die Blätter einer Lotusblüte, und vier konzentrische Ringe hoben sich zu einer Miniatur des Palasts von Zhoka. »Alles, was er in den Briefen erwähnt hat, ist hier.« Neben dem mechanischen Mandala lagen auf flachen Holzrahmen zwei leuchtend bunte thangkas , gefolgt von einer zierlichen Silberfigur des Zukünftigen Buddha und einer tiefschwarzen Steinstatuedes Schutzgottes Jambhala, der sprungbereit kniete und einen großen Rubin in Form einer Schatzvase hielt. Hinter alldem erhob sich ein würdevoller Buddha auf einem goldenen Thron, und zwar nicht dem traditionellen Thron aus Lotusblumen, sondern dem Drachenthron der Qing-Dynastie.
    Dolan gab ein merkwürdiges Geräusch von sich, das im einen Moment wie ein Gebet klang, im nächsten wie ein Stöhnen. Corbett betrachtete den Wasserstrudel.
    Langsam nahm Dolan die schwarze Jambhala-Statue, starrte sie an und stellte sie am Eingang der Kammer ab. Sein Gesicht war wieder aschfahl, und er blickte verwirrt von der Statue zu dem leeren Fleck auf dem Altar, wo sie eben noch gestanden hatte. Dann verschob er die umstehenden

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