Der verlorene Sohn von Tibet
war die letzte Eisenstange, die Corbett vor zwei Wochen als verzweifelter Halt gedient hatte und dann gebrochen war, nun weit nach außen gebogen, als habe etwas Schweres sie mit großer Wucht erfaßt. Shan sah es und verspürte eine grauenhafte Leere.
»Wahrscheinlich hat er sich vorher den Kopf gestoßen«, sagte Corbett mit trauriger Stimme. »Ich bezweifle, daß er noch bei Bewußtsein war.« Shan wußte, daß er nicht Dolan meinte.
»Helfen Sie Yao«, sagte Shan. »Bringen Sie ihn nach draußen.«
Corbett lief den Tunnel wieder hinauf. Shan schaute ihm hinterher. Dann entrang sich seiner Kehle ein leises Stöhnen, und er fiel auf die Knie.
So verharrte er lange Zeit. Dann stand er auf und ging wie betäubt zurück zum Tempel. Corbett und Yao waren nirgendwo zu sehen. Nachdem Shan sich durch den schmalen Tunnel gezwängt hatte, hielt er kurz inne und stieg dann nichtzur nächsten Ebene empor, sondern wandte sich in Richtung des Nordtors.
Die Kammer, die sie beim erstenmal nur schwimmend erreicht hatten, schien leer zu sein, doch als Shan den Raum etwas genauer ausleuchtete, entdeckte er auf der anderen Seite einen undefinierbaren Haufen Lumpen am Rand des Beckens. Langsam und wie in einem Traum ging er näher heran, bis ihn irgend etwas plötzlich wachzurütteln schien und er losrannte. »Ko!« rief er.
Sein Sohn lag mit einem Arm im eiskalten Wasser. Er atmete, war aber anscheinend nicht bei Bewußtsein. Shan rollte ihn auf den Rücken, barg seinen Kopf auf dem Schoß, strich ihm über das Haar und rieb ihm die Hände, um sie zu wärmen.
»Er wurde von der Strömung weggerissen, und mich hat der Wasserfall in die Tiefe gedrückt«, sagte eine schwache Stimme. »Wir haben gekämpft, und Dolan hat mich nach hinten gestoßen. Dann ist er ausgerutscht, und ich bin versunken. Ich fiel wie ein Stein, tiefer und tiefer. Es tut mir leid. Ich hatte immer noch zwei dieser kleinen goldenen Statuen in der Tasche. Dann hörte ich auf einmal Lokesh. Du mußt loslassen und von vorn anfangen, hat er gesagt. Also habe ich meine Taschen geleert und das Gold losgelassen. Da stieg ich auf einmal wieder zur Oberfläche.« Ko brachte die letzten Worte nur noch mit Mühe über die Lippen und bekam einen Hustenanfall.
Eine Viertelstunde später erreichten sie die dritte Ebene des Tempels. Ko hatte sich in Shans Jacke gewickelt. Die ganze Zeit rechnete Shan damit, auf Corbett und Yao zu treffen, und blieb immer wieder stehen, um zu lauschen, doch er vernahm kein Geräusch von oben. »Sie sind alle schon draußen«, mutmaßte Shan, als er sah, daß Lokesh die Unterkunft des amban verlassen hatte, in der immer noch Khans Leiche lag.
Aber als er schließlich den goldenen Balken betrat, hielt er inne. Die Stille war irgendwie anders als zuvor. Dann hörte er die Worte und fühlte sich erneut vor Schreck wie gelähmt. Nach zwei weiteren Schritten mußte er sich an einem der goldenen Berge abstützen. Lokesh hatte die Todesriten angestimmt.
Als Shan in die Kammer stolperte, sah er Corbett und Lokesh bei Yao sitzen. »Er wollte, daß du gehst«, sagte der alte Tibeter entschuldigend. »Du solltest nicht sehen, wie schlimm es war. Er mußte noch einen Brief schreiben.« Lokesh zeigte auf ein gefaltetes Stück Papier, das aus Corbetts Tasche ragte.
Ko kam herein, stöhnte auf und kniete sich neben Yao.
»Die Kugel hat eine Arterie verletzt«, erklärte Corbett. »Als ich zurückkam, war es fast schon vorbei. Ihm war klar, daß er sterben mußte. Er hat gespürt, wie sein Bauch durch die innere Blutung immer härter wurde.«
»Und der Brief?« fragte Shan.
»Der ist für Oberst Tan und den Ministerrat bestimmt«, sagte Corbett.
Ko stand auf und fing unerklärlicherweise an, den Staub von allen Statuen zu wischen.
Ein stummes Schluchzen ließ Shan erbeben. Dann setzte er sich, glättete benommen Yaos Kleidung und sprach gemeinsam mit Lokesh die Todesriten, während sein Sohn die Götter säuberte, die im Zentrum des Universums weilten.
Kapitel Zwanzig
Die Stille unmittelbar nach dem Tod ist eigentlich wie ein Geräusch, ein leerer Schrei, ein tiefes, markerschütterndes Grollen, das nicht die Ohren, sondern die Essenz hinter den Ohren erreicht. Yaos Hand war noch warm. Shan nahm sie und umschloß sie.
Lokesh trank einen Schluck aus der Wasserflasche, die Corbett ihm anbot, und sah den Schmerz auf Shans Gesicht. »Er wird sich hier mühelos zurechtfinden«, versicherte er leise und ruhig.
»Hier?« fragte Shan mit zittriger
Weitere Kostenlose Bücher