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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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zu Ming. In diesem Moment rutschte dessen Begleiter der Mantel von den Schultern, doch der Mann ging weiter, als habe er es gar nicht registriert.
    Unwillkürlich wollte Shan den Arm ausstrecken, wurde aber durch die Handschelle jäh davon abgehalten. Das dort war Surya. Ming hatte den Mönch zur Baubrigade gebracht. Womöglich wollte der Direktor dafür sorgen, daß Shan sich nicht einmischte. Oder er wollte auf diese Weise einen Zwischenfall heraufbeschwören, denn Surya würde sich unausweichlich zu den alten Lamas unter den Häftlingen hingezogen fühlen. Wenn das geschah, würde er für die Warnungen der Wachposten taub sein und ohne Rücksicht auf das eigene Wohlergehen die unsichtbare Sperrzone übertreten.
    »Ming benimmt sich wie ein verdammter Politoffizier«, nörgelte Tan. »Was stolziert er da großspurig …?« Der Oberst verstummte abrupt, denn sie vernahmen ein neues Geräusch. Im ersten Moment hielt Shan es für den fernen Ruf eines Tiers, aber dann erklang der Ton nicht mehr stockend, sondern kräftiger und gleichmäßig und wurde durch die Felswand noch verstärkt, so daß die Luft auf seltsam durchdringende Art zu vibrieren anfing. Die meisten der Gefangenen hielten inne und starrten erstaunt zu der Klippe empor, von wo das Geräusch zu stammen schien.
    »Dungchen!« rief Ming aus etwa vierzig Schritten Entfernung.
    Die alten Männer in zerlumpter Kleidung hörten nun alle auf zu arbeiten und ließen die Werkzeuge und Schubkarren fallen. Auf ihren erschöpften Gesichtern breitete sich ein Lächeln aus. Sie erkannten, daß dort eines der langen, spitz zulaufenden Hörner erschallte, die Shan zuletzt in Bumpari gehört hatte und mit denen die Gläubigen zusammengerufen wurden. Die meisten Sträflinge hatten dieses Geräusch seit Jahrzehnten nicht mehr vernommen.
    »Dungchen!« wiederholte Ming laut, als hoffe er die Häftlinge anstacheln zu können.
    Tans Adjutanten suchten die Wand mit ihren Ferngläsern ab. Das Horn war nirgendwo zu entdecken, aber es gab dort oben viele dunkle Felsspalten, die sich gut als Verstecke eigneten.
    Trillerpfeifen ertönten. Einige der Posten begaben sich unter die Gefangenen, schrien sie an, fluchten und hoben drohend die Schlagstöcke.
    Doch je länger das Horn erklang, desto weniger schienen die Häftlinge Notiz von den Wachen zu nehmen.
    »Bei Buddhas Atem!« rief einer der alten Männer, und Shan erinnerte sich, daß seine Mithäftlinge diesen Ausdruck häufig gebraucht hatten, wenn sie den tiefen Widerhall der Hörner beschreiben wollten. Er hingegen empfand das Geräusch wie einen dröhnenden Kehlgesang. Es war, als würde der Fels höchstpersönlich einen abgrundtiefen Seelenschluchzer ausstoßen. Als würde der Bergbuddha nahen.
    »Dreißig Schritte zurück«, rief eine laute Stimme.
    Shan war sich nicht sicher, ob die Worte nur in seiner Einbildung existierten oder ob Tan den Befehl tatsächlich erteilt hatte. Dann aber sah er einen der Adjutanten zu den Wachposten laufen, die sich daraufhin widerwillig an den Rand des Geländes zurückzogen. Tan machte mit finsterer Miene kehrt und mußte Shan mehrmals regelrecht wegzerren, bis sie wieder bei den Lastwagen standen. Sein Ärger ließ jedoch immer mehr nach, und auf sonderbar distanzierte Weise wirkte er sogar neugierig.
    Der Ruf des Horns ertönte nun schon seit fünf Minuten, und während die Posten grimmig zusahen, sammelten die Gefangenen sich allmählich in der Mitte des Felds. Die älteren Häftlinge lächelten immer noch, und ihre jüngeren Leidensgenossen scharten sich wie zum Schutz um sie. Auch die Bauern jenseits des Bereichs hielten in ihrer Arbeit inne und schauten zu der hohen Klippe.
    Plötzlich bewegte sich dort oben etwas. Einer der Sträflinge stieß einen Freudenschrei aus, einer der Offiziere einen Warnruf, aber auch er bewegte sich nicht, sondern starrte gebannt empor. Auf der Wand war ein Buddha zum Vorschein gekommen. Es handelte sich um eines der riesigen alten Bannergemälde, und esmaß etwa fünfzehn mal dreißig Meter. Ohne jeden Zweifel stammte es aus Zhoka, denn es wies alle Anzeichen der lebendigen Götterbilder auf. Das heiter lächelnde Gesicht blickte wie zum Segen über das Tal hinaus; eine Hand hielt eine Bettelschale, die andere formte das mudra der Erdberührung. Das Haar war blau und von einer grünen Aura umgeben, die Augen lebendig und die Haut leuchtend golden. Da erkannte Shan, daß er von diesem Bild bereits in Bruder Bertrams Tagebuch gelesen hatte. Er mußte an die

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