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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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tibetischen Bauern auf den angrenzenden Parzellen nicht näher als zweihundert Meter kamen. Shan blieb weiterhin an den Oberst gekettet und folgte ihm an der Rückseite des Bereichs zu den grauen Lastwagen, mit denen man die Gefangenen am Abend zurück ins Lager bringenwürde. Tan schien sehr darauf bedacht zu sein, daß Shan keine Gelegenheit erhielt, mit einem der Sträflinge zu sprechen oder auch nur Blickkontakt aufzunehmen. Er eilte fast im Laufschritt voran und sah sich beständig und aufmerksam um.
    »Vielleicht ist es tatsächlich bloß ein Gerücht«, sagte Shan, als sie die Laster erreichten.
    »Jedes Haus und jedes Lager in den Hügeln ist verlassen«, sagte Tan angespannt. »Die Herden sind in den Tälern zurückgeblieben und werden nur noch von Hunden bewacht. Wir können keinen der Leute aufspüren.« Als er Shan ansah, lag nicht nur kalte Wut in seinem Blick, sondern auch etwas anderes, das beinahe wie Kummer wirkte. »Zwing mich nicht, das zu tun«, sagte er. »Wenn du es aufhalten willst, dann sofort.«
    Shan erwiderte nichts.
    Tan musterte ihn schweigend und mit zusammengebissenen Zähnen. Dann schlug er die Plane des Lastwagens beiseite, hinter dem sie standen. Im Innern saßen sechs Soldaten, wachsam und auf beunruhigende Weise diensteifrig. Vor ihnen stand ein Maschinengewehr auf einem Dreibein.
    »Zwei weitere Trupps sind zwischen den Felsen und im Unterholz am Fuß der Klippe postiert«, erläuterte der Oberst. »Das Verfahren ist genau geregelt.« Er winkte einen Adjutanten heran, der in der Nähe stand. »Leutnant, wie lautet die Vorschrift?«
    Der junge Offizier trat vor und nahm Haltung an. »Sobald es unter den Strafgefangenen Anzeichen für eine Rebellion gibt, wird eine entsprechende Warnung erteilt, Sir. Wer sich dann kooperativ zeigt, darf sich flach auf den Boden legen, um dem Sperrfeuer zu entgehen.«
    Das war unmöglich, hielt Shan sich vor Augen. Sie konnten doch nicht so lange darum gerungen haben, die Wahrheit über Zhoka und die Diebstähle herauszufinden – was bereits einen schrecklichen Tribut gefordert hatte –, um letztlich mit dieser Katastrophe zu enden. Liya und die Hügelleute wären gewiß nicht so dumm, einen entsprechenden Versuch zu unternehmen, und Tan wäre nicht so töricht, darauf mit solcher Gewalt zu antworten. Aber Shan sah dem Oberst in die Augen undwußte es besser. Der Zorn in Tans Blick war nun vollständig einem Anflug von Traurigkeit gewichen. Er würde den Feuerbefehl nicht aus Grausamkeit geben, sondern aus Prinzip, weil die Befehlslage im Fall einer Häftlingsrevolte ihm keinerlei Freiraum ermöglichte.
    Shan ließ den Blick noch einmal über das Gelände schweifen und suchte verzweifelt nach einer Erklärung. Inzwischen haßte er sich dafür, daß er Tashi aufgetragen hatte, Ming zu erzählen, der Bergbuddha sei in Bewegung und Dolan versuche, ihn zu finden. Shan hatte lediglich bewirken wollen, daß Ming und Dolan sich trennten. Nun aber konnte Mings Gier das Ende der 404. Baubrigade bedeuten, denn der Direktor würde den Aufstand entweder auslösen oder notfalls inszenieren. Er hatte sich mit einem falschen Grab zufriedengegeben, und eine falsche Revolte dürfte seinen Zwecken durchaus genügen. »Der Mann namens Lu ist zusammen mit Ming aus den Bergen abgereist«, sagte Shan.
    »Er wurde nicht gesehen.« Tan stieß den Rauch durch die Nase aus. »Und wir haben keine Veranlassung, nach ihm zu suchen. Du mußt uns erst noch beweisen, daß einer von denen ein Krimineller ist.«
    »Yao hat es bewiesen.«
    »Yaos Bericht ist in Peking verschwunden.«
    Am Rand des Felds tauchte der Museumsdirektor auf. Er trug eine Armeejacke über seinem weißen Hemd. Jemand in einem langen Militärmantel und einem breitkrempigen Hut ging mit kleinen, unsicheren Schritten neben ihm. Der Mann war zu groß für Lu, aber Ming schien ihn gut zu kennen, denn er legte ihm nun eine Hand auf die Schulter und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Shan spürte, daß auch Ming nicht genau wußte, was passieren würde. Ihm war lediglich klar, daß der Schatz sich mittlerweile in der Nähe befand.
    Tans Anspannung wurde offensichtlich. Er zündete sich noch eine Zigarette an, dann eine dritte, die er mit den Lippen direkt aus der Schachtel zog. Schließlich schritt er mit Shan den Rand des Geländes ab, zeigte auf die Felsen am oberen Ende der Klippe, weil sich dort etwas bewegte, und fluchte, als esbeim erstenmal ein flüchtender Pfeifhase und dann ein großer Vogel war.
    Shan schaute

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