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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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gefragt.«
    »Und was war so wichtig, daß man dich sogar hergeflogen hat?«
    »Der Helikopter wäre sowieso gekommen, um diese Polizisten einzusammeln. Er fliegt jetzt jeden Tag los. Morgens bringt er die Teams in die Berge, und abends holt er sie wieder ab.«
    »Was war so wichtig?« wiederholte Shan.
    »Ich habe vor dem Büro des Obersts gewartet, weil ich berichten sollte, ob der alte Bettler etwas gesagt hatte. Oberst Tan sprach über Funk mit Yao. Die beiden haben gestritten. Yao warbei den Ruinen und wegen irgendwas wütend, das du gemacht hattest. Direktor Ming war auch in dem Büro. Sie wissen nicht, daß ich gelauscht habe. Ming sagte, die auf dich ausgesetzte Belohnung würde schon dafür sorgen, daß man dich bald nach Lhadrung ausliefert. Der Oberst sagte, nein, du würdest dich ab jetzt versteckt halten und längst irgendwo tief in den Bergen sitzen. Dann sagte Yao etwas, das ich nicht verstehen konnte. Daraufhin hat der Oberst mit irgendwem ein langes Telefongespräch geführt. Nach einer Weile kam Direktor Ming und nahm mich in einen Besprechungsraum mit. Er sagte, ich sei ihm noch nicht allzu nützlich gewesen, und zum Zeichen meiner Hilfsbereitschaft solle ich dich zu ihm bringen.«
    »Wieso glaubt er, du könntest dazu in der Lage sein?«
    »Weil ich dir etwas ausrichten soll.«
    »Was denn?«
    Tashi blickte auf und lächelte verunsichert. »Falls du freiwillig zu ihnen kommst und ihnen behilflich bist, darfst du deinen Sohn wiedersehen.«
    Eine Viertelstunde lang rannte Shan, so schnell er konnte, in Richtung Lhadrung. Es war ziemlich dunkel, und er rutschte häufig auf dem losen, scharfkantigen Schotter aus. Seine Hose zerriß. Er spürte, daß Blut an seinem Schienbein hinunterlief. Dann blieb er keuchend stehen und versuchte, sich zu beruhigen. Er lehnte sich an einen Felsen, schaute zu den Sternen hinauf und hatte den Eindruck, er solle etwas zu seinem Vater sagen, doch ihm fiel nichts ein.
    Vor seinem Aufbruch hatte er eine Weile im Lager gesessen, verwirrt um seine Fassung gerungen und sich vergeblich bemüht, die heftigen Gefühle in den Griff zu bekommen, die durch Tashis Botschaft in ihm ausgelöst worden waren. Nach einigen Minuten hatte Lokesh sich zu ihm gesellt.
    »Das ist irgendeine Falle«, hatte Shan gemurmelt. »Sie können gar nicht wissen, wo mein Sohn ist. Ich muß hierbleiben. Ich muß eine Möglichkeit finden, daß Surya zu uns zurückkommt und diese Leute keine weiteren Mönche entführen.«
    »Als ich noch klein war«, sagte sein alter Freund, »habe ichgehört, wie meine Mutter ihrer Schwester erzählte, sobald man ein Kind habe, wohne nicht mehr nur die eigene Gottheit in deinem Innern, sondern zusätzlich etwas Neues, denn dein Kind würde wie ein Altar werden. Ich habe das damals nicht begriffen. Es kam mir komisch vor, Kinder wie Götter zu verehren. Dann habe ich es wieder vergessen, bis zu dem Jahr, das ich zusammen mit meiner Mutter im Gefängnis verbracht habe.« Lokesh bezog sich damit nicht auf die tatsächliche Anwesenheit seiner Mutter, denn sie war vor der chinesischen Invasion gestorben, sondern auf das Jahr, das er der Meditation zu ihren Ehren gewidmet hatte. Er hatte versucht, sich an jedes Ereignis ihres gemeinsamen Lebens zu entsinnen, manchmal den anderen Häftlingen davon erzählt und manchmal tagelang geschwiegen, wenn er völlig in seinen Erinnerungen versank.
    »Falls ich zu diesen Leuten gehe, zu diesem Inspektor, den ich getroffen habe, und zu Oberst Tan, dann werden sie mich zwingen wollen, ihnen bei ihrem Vorhaben zu helfen, was auch immer das sein mag. Sie werden verlangen, daß ich ihnen einen weiteren Mönch aus den Bergen beschaffe.«
    Lokesh ließ nicht erkennen, ob er ihn gehört hatte. »Eines Nachts ist mir klargeworden, was sie gemeint hat«, fuhr er fort. »Sie meinte, daß ein Elternteil die eigene Gottheit durch die Kinder ehrt, denn dein Kind ist Teil deiner Andacht.«
    »Ich bin mir nicht sicher, was du sagen willst.«
    »Bleib nicht wegen Gendun oder Surya hier. Die beiden werden den Pfaden ihrer eigenen Gottheiten folgen. Geh ins Tal, denn dein Sohn braucht dich. Behalte das im Herzen, dann wirst du stets das Richtige tun, ganz egal, was passiert.«
    Der Gedanke an diese Worte beruhigte Shan nun. Die Nachricht des Spitzels hatte eine viel zu lange verschlossene Tür seiner Erinnerung aufgestoßen, den Zugang zu einer Kammer voller Bilder: ein schüchterner kleiner Junge, der mit Shan im Park spazierenging, oder ein Säugling auf

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