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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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zufrieden, wie ein Lehrer, der dem unbeliebtesten seiner Schüler sogleich eine schwere Strafe auferlegen würde. Gegenüber von Yao saß Direktor Ming vor einem Aktenstapel. Seine Hände lagen flach auf dem Tisch, und er schaute erwartungsvoll drein.
    Die Stille war drückend. Oberst Tan murmelte einen Fluch.
    »Seine Hose. Er braucht dringend eine neue Hose«, sagte eine tiefe Stimme gemächlich aus den Schatten. Sie sprach englisch.
    Shan blickte nach unten. Seit den Stürzen der letzten Nacht wies seine ohnehin schon zerlumpte und abgetragene Hose unterhalb der Knie mehrere gezackte Risse auf. Sein linkes Bein war an einer Stelle vollständig freigelegt, und man konnte die aufgeschürfte Haut erkennen. Getrocknete Blutflecke verdunkelten den Stoff.
    Tan warf Yao einen wütenden Blick zu, als verlange er eine Übersetzung, aber noch bevor der Inspektor reagieren konnte, erhob Ming sich mit melodramatischer Pose von seinem Platz. »Hier scheint ein Irrtum vorzuliegen«, sagte er und kam auf Shan zu. Shan senkte sofort den Blick auf den eleganten tibetischen Teppich, der unter dem Tisch lag. Die Reflexe von vier Jahren Gulag gingen nicht so leicht verloren. Er rührte sich nicht und zeigte keinerlei Reaktion, als Ming seinen Arm nahm, den Ärmel hochschob und auf die Tätowierung wies. »Dieser Mann ist ein verurteilter Straftäter. Ein Verbrecher.«
    Shan hörte, wie jemand aufstand. »Dieser Mann hat mir das Leben gerettet«, polterte dieselbe tiefe Stimme, diesmal auf chinesisch. »Falls Sie ihm nicht sofort eine saubere Hose verschaffen, ziehe ich meine aus und gebe sie ihm.« Der Tonfall ließ keinen Widerspruch zu.
    Yao flüsterte Tan etwas ins Ohr. Der Oberst erhob sich und rief einen Befehl. Der Offizier, der Shan hergeführt hatte, kam herein, rannte zu Tan, dann zu einer rückwärtigen Tür hinaus und kehrte weniger als eine Minute später mit einer grauen Hose zurück, die er Yao zuwarf. Der Inspektor legte sie auf das Sofa im Halbdunkel. Als niemand etwas sagte, ging Shan dorthin und zog sich um. Neben dem Sofa stand eine Art Staffeleimit einem großen Schreibblock. Auf dem obersten Blatt stand in großen Ideogrammen ein Name: Kwan Li. Darunter folgten mehrere Punkte, wie aus einem Lebenslauf: vierundvierzig Jahre; Prinz; General; hat gedient in Lhasa, Peking, Xian. Shan kehrte zum Tisch zurück und stellte fest, daß mittlerweile auch der Amerikaner, den er vom Vortag kannte, dort Platz genommen hatte.
    »Vielen Dank«, murmelte Shan auf englisch.
    »Unser Treffen gestern war etwas hektisch. Fangen wir noch mal von vorn an«, sagte der Mann. »Ich heiße Corbett. Federal Bureau of Investigation. Es freut mich, daß Sie kommen konnten.« Er zog den leeren Stuhl neben sich ein Stück zurück, nickte Shan zu, verschränkte die Hände auf dem Tisch und schaute auffordernd zu Yao.
    Shan starrte den Amerikaner an. Corbett kannte ihn nicht und war dennoch so freundlich. Fast schien es, als wolle er sich in einem drohenden Konflikt auf Shans Seite stellen.
    »Demnach hat unsere Nachricht Sie erreicht«, sagte Yao.
    Langsam sah Shan von Corbett zu dem Inspektor und nickte.
    »Wir benötigen Ihre Unterstützung. In Lhadrung sind internationale Kriminelle am Werk.«
    Shan sagte zunächst nichts, sondern musterte nacheinander alle Gesichter am Tisch. Zuletzt fiel sein Blick auf Oberst Tan, der wiederum die kleine schwarze Mappe vor Yao nicht aus den Augen ließ. Tan hatte schon einmal um Shans Unterstützung gebeten. »Ich bin kein Ermittler«, stellte Shan schließlich fest.
    »Natürlich nicht«, gab Yao barsch zurück. »Wir brauchen jemanden, der sich in den Bergen auskennt und uns vor Ort ein paar Erklärungen liefert. Verläßliche Tibeter scheinen in diesem Bezirk eine Seltenheit zu sein.« Das nachlässige, fast ungepflegt wirkende Erscheinungsbild des Inspektors war trügerisch. Seine Stimme klang kalt und schneidend. Vermutlich war er es gewohnt, Befehle zu erteilen und politischen Tadel zu üben.
    Shan ertappte sich dabei, daß er ebenfalls die schwarze Mappe anstarrte. »Ich werde nicht helfen, Tibeter hinter Gitter zu bringen.«
    Tan fluchte. Direktor Ming gab ein schrilles Geräusch von sich, das offenbar ein Lachen sein sollte.
    Yao seufzte enttäuscht auf. »Wir wurden bereits vor Ihren Überzeugungen gewarnt.« Er erhob sich, holte etwas von einem Stuhl im Hintergrund und schüttelte es. Der Gegenstand klirrte metallisch. Fußfesseln. Yao hielt sie Shan einen Moment lang hin und legte sie dann auf

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