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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Blaumenschen.«
    Als Shan endlich auf einen Ziegenpfad stieß, der genau nach Süden führte, ging in violetter und goldener Pracht bereits die Sonne unter. Ein mechanisches Knattern ließ ihn hinter einem Felsen Deckung suchen. Erleichtert beobachtete er, wie ein Hubschrauber auf dem Grat oberhalb Zhokas landete und gleich darauf wieder abhob, zweifellos mit Yao und dem Amerikaner an Bord. Dann fiel ihm die kleine Zigarre ein, die er in dem Tunnel gefunden hatte. Es war noch jemand in dem gompa gewesen. Womöglich hielt er sich weiterhin dort auf, und Gendun war allein und meditierte.
    Shan ging zögernd weiter, sann über seine Befürchtungen nach und ließ die verwirrenden Ereignisse der letzten beiden Tage vorüberziehen, wobei es ihm nicht gelang, Suryas hohles, leeres Antlitz zu verdrängen. Was hatte die Geschichte des großen Hirten zu bedeuten? Der Name, nach dem die Gottestöter verlangten, bezeichnete eine Inkarnation des Yama, des Herrn der Toten. Der FBI-Agent hatte erzählt, Surya habe ein Bild des Todes anfertigen sollen. Ein Ziegenmelker schrie. Shan blieb stehen und verfolgte den Flug des Vogels am Sternenhimmel. Als das Tier verschwand, bemerkte er ein neues Geräusch, ein leises Wimmern, das mit dem Wind an- und abschwoll. Fünf Minuten später stand er oberhalb einer kleinen Mulde am Hang und sah jemanden um ein loderndes Feuer tanzen. Eine Frau und ein Kind schauten dabei zu. Sie hatten Shan den Rücken zugekehrt.
    Der Tänzer hatte sich ein langes Grasbüschel an die Stirn gebunden, so daß sein Gesicht verdeckt wurde. Am Oberkörper trug er lediglich eine Weste, weitere Grasbüschel waren mit einem Stück Schnur an seiner Taille befestigt, und auch die Hosenbeine hatte er mit Gras ausgestopft. Er schwang einen knorrigen Ast und sang beim Tanzen, kein Mantra, sondern ein altes Lied. Auf einmal holte der Mann über dem Kind weit mit dem Knüppel aus, und die Kleine fing an zu kreischen. Shan trat unwillkürlicheinen Schritt vor. Dann erst wurde ihm klar, daß er keinen Angstschrei, sondern Gelächter hörte.
    Shan fiel ein Stein vom Herzen. Das dort war Dawa, die sich ausgelassen freute, während Lokesh tanzte. Neben ihr saß Liya. Lokesh erzählte dem Mädchen von Milarepa, dem berühmten Lehrmeister, und spielte dabei eines der Lieder des Heiligen nach, in dem berichtet wurde, wie seine Schwester ihn in seiner Höhle entdeckte und seine Haut ganz grün geworden war, weil er jahrelang nur Nesseln gegessen hatte.
    Mit der Energie eines weitaus jüngeren Mannes sprang Lokesh nun in die Höhe und landete mit gesenktem Kopf vor Dawa. Sie lachten beide. Dann fing er an, sich von dem Gras zu befreien. Shan ging zu ihm. »Gepriesen sei Buddha!« rief der alte Tibeter zum Gruß und lächelte überrascht.
    »Onkel Lokesh erzählt mir von früher«, verkündete Dawa ernst, nachdem auch sie Shan begrüßt hatte.
    »Es ist noch tsampa da«, sagte Lokesh und meinte damit geröstetes Gerstenmehl, eine alltägliche tibetische Speise. »Wir können es aufwärmen.«
    »Das wäre nett«, sagte Shan und merkte schlagartig, wie hungrig er war. Als Dawa zu ein paar Felsen ging, um von dort eine kleine Pfanne zu holen, nahm Shan den Lagerplatz etwas genauer in Augenschein. An einem Geröllblock lehnte ein großes hölzernes Tragegestell, und daneben lag eine Decke mit mehreren Utensilien. Shan konnte im Halbdunkel nicht alles erkennen, aber er sah die kleine Bronzestatue einer Gottheit, ein langes schmales Metalletui wie für Stifte oder Pinsel und einen Holzkasten mit aufgeklapptem Deckel. Er schien dickes Garn und grobe Nadeln zu enthalten, mit denen man für gewöhnlich Zelte nähte. Liya folgte Shans Blick. »Das ist bloß alter Kram«, sagte sie und schlug mit dem Fuß einen Zipfel der Unterlage um, so daß die Gegenstände verdeckt wurden.
    Nicht alles dort war alt. Shan hatte außerdem einen kleinen metallenen Kompaß, ein Klappmesser, ein starkes Nylonseil und einige Karabinerhaken erkannt, wie sie von Bergsteigern benutzt wurden. In Zhoka hatte Liya diese Dinge noch nicht besessen.
    Shan nahm einen verbeulten Blechteller voll dampfendem tsampa entgegen und fing an, mit den Fingern zu essen. Nach einigen Bissen erkundigte er sich, ob den anderen irgendwelche der Hügelleute begegnet seien.
    Lokesh rieb sich das Kinn mit den weißen Bartstoppeln und schaute zum südlichen Horizont. »Ich habe Dawa gestern um Mitternacht gefunden. Sie saß auf einem Felsen, blickte zum Mond und sprach mit ihrer Mutter weit weg

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