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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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seinem Arm, der – so unglaublich es auch scheinen mochte – sein Kind war. Es gab sogar Szenen, die nie real gewesen waren, sondern nur in Shans Phantasie existierten. In einer davon saß sein Sohn im Kreis mehrerer Lamas.
    Während der Haft hatten diese Bilder Shan bisweilen geholfen, am Leben zu bleiben. Als dann aber Oberst Tan ihm vor anderthalb Jahren brutal mitteilte, seine Frau habe die Ehe annullieren lassen, neu geheiratet und dem Sohn zweifellos erzählt, sein Vater sei tot, hatte Shan die Tür zugeschlagen und sich geschworen, diesen Ort nie mehr zu betreten, weil dort nur noch Schmerz lauerte. Der Schmerz war inzwischen abgeebbt, aber das galt auch für den letzten Rest von Shans verzweifelter, lächerlicher Hoffnung.
    Er starrte in den Himmel, bis er eine Sternschnuppe sah. Dann ging er weiter.
    Genau wie am Vortag betrat Shan die Stadt über den Marktplatz. Die nächtliche Wanderung durch die Berge hatte ihn erschöpft. Er wartete an einem öffentlichen Wasserhahn, bis eine Frau zwei Eimer gefüllt hatte, und hielt sein Gesicht dann unter den kühlen Strahl. Nachdem er den Hahn wieder zugedreht hatte, blieb er einen Moment lang knien, sah das Wasser in dem kleinen Zementbecken ablaufen und mußte sich erneut beruhigen. Dreh dich um, und renn zurück in die Berge, rief eine Stimme in seinem Kopf. Niemand in Lhadrung konnte etwas über seinen Sohn wissen. Es sah Oberst Tan ähnlich, ihn mit einem so grausamen Trick anzulocken.
    Doch als er aufstand und zögernd den Schatten des nächsten Gebäudes ansteuern wollte, schloß sich eine Hand um seinen Oberarm. Das Rauschen eines Funkgeräts ertönte, und jemand fing an, aufgeregt zu sprechen. Shan wandte den Kopf und blickte in die Augen eines jungen Soldaten mit pockennarbiger Haut. Er kannte das Gesicht. Der Mann gehörte zu Oberst Tans persönlichem Sicherheitskommando. Ein anderer Soldat stand neben der offenen Tür eines kleinen Armeelasters und hielt ein Walkie-Talkie in der Hand.
    Wenig später fuhren sie schweigend und mit hoher Geschwindigkeit durch das Tal. Shan saß zwischen den beiden Soldaten im Führerhaus des Transporters. Nach nicht einmal zehn Minuten erreichten sie einen lichten Wald auf dem westlichen Hang und bogen auf eine gewundene Straße ein. Shan wußte, wo sie sich befanden, denn er hatte diesen Weg letztesJahr schon einmal zurückgelegt. Die Straße führte zu einem kleinen ummauerten Gelände, einem teilweise zerstörten gompa , das damals zu einem Privatklub für Funktionäre umgebaut werden sollte. Man hatte die Bemühungen offenbar aufgegeben, erkannte Shan, als sie ausstiegen. Die mit Stuck verzierten Wände wiesen tiefe Risse auf, und am Fuß der Mauern wuchs Unkraut. Nur das zweisprachige Schild am Eingang war neu: Gästehaus des Bezirks Lhadrung .
    Als sie den Innenhof betraten, schlurfte der vordere Soldat lautstark durch den Kies. Es waren rote Steinchen, wie Shan sie im Reifenprofil von McDowells Wagen gesehen hatte. Von der hinteren Mauer hingen lange Planen herunter und verhüllten mehrere sperrige Objekte. Es mußte sich noch immer um dieselben zerlegten oder beschädigten Statuen und Artefakte handeln, die Shan dort im Vorjahr aufgefallen waren. Mitten auf dem Hof schnaufte stotternd ein kleiner Springbrunnen und stieß alle paar Sekunden eine winzige Wasserfontäne aus.
    Shans Begleiter schoben ihn unsanft zum Eingang des größten Gebäudes und übergaben ihn dort an einen anderen Soldaten, einen Offizier, wie die zwei Brusttaschen seiner Uniform belegten. Der Mann führte ihn zu einer leuchtend rot lackierten Tür.
    Seit Shans letztem Besuch hatte man den großen Saal verputzt und gestrichen. Es war nun eine Mischung aus Konferenzraum und Salon. An einem Ende stand im Halbdunkel ein langes Sofa, flankiert von zwei dick gepolsterten Sesseln, auf deren Rücken- und Armlehnen Spitzendeckchen lagen. Jenseits des Sofas und noch tiefer im Dunkeln konnte man in der Ecke einige Holzstühle erahnen. Links des Eingangs stand ein langer, breiter Tisch mit einem Dutzend Stühlen. Dahinter an der Wand hingen zwei Landkarten; die eine zeigte den Bezirk Lhadrung, die andere die Volksrepublik China. Das einzige Licht im Raum stammte von einer Lampe über dem Tisch. Sie erhellte drei mürrische Gesichter, und alle starrten Shan an.
    Oberst Tan saß am Kopfende, hielt dicht an seinen Lippen eine Zigarette und war in Rauchschwaden gehüllt. Inspektor Yao trank aus einer dampfenden Porzellantasse und wirkte verärgert,aber

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