Der verlorene Sohn von Tibet
einen der freien Plätze am Tisch. »Man hat Sie nie offiziell aus dem Gewahrsam entlassen. Sie sind immer noch ein Strafgefangener. Jemand «, betonte er anzüglich, »hat Ihnen Hafturlaub bewilligt. Das kann jederzeit widerrufen werden.«
Shan merkte, daß er seltsamerweise keine Angst mehr empfand. Wie so viele ehemalige Häftlinge hatte auch er irgendwie damit gerechnet, eines Tages wieder im Gulag zu landen. Ein weiteres Mal sah er jedem der Anwesenden ins Gesicht, ging dann schweigend zu der Fessel, stellte die Füße nacheinander auf den Stuhl und legte sich eigenhändig die Eisen um die Knöchel.
»Mein Gott«, murmelte Corbett.
Tan bedachte Yao mit einem humorlosen Lächeln. Der Inspektor runzelte die Stirn und starrte dann wütend auf die Kette an Shans Füßen. Ming hingegen schien hoch erfreut zu sein. Er stand auf, eilte zur Tür und rief begeistert nach den Soldaten.
Shan ging langsam zu dem Teppich neben der Tür und betrachtete das Muster am Rand. Es war ausgefranst und verblichen, aber er konnte erkennen, daß die Weber den Saum mit einer Kette heiliger Symbole verziert hatten. Eine Schatzvase, eine Lotusblume, springende Fische. Als zwei Soldaten den Raum betraten und ihn an beiden Armen packten, behielt Shan den Teppich im Blick. Auch das war ein tief verwurzelter Häftlingsreflex. Wenn du in der Außenwelt bist, präge dir kleine farbenfrohe Momentaufnahmen ein, um während der finsteren grauen Zeiten davon zu zehren. Shan war damals mit unbegrenzter Haftdauer eingesperrt worden. Tan hatte ihn gewarnt, falls er noch einmal ins Straflager käme, würde er es vielleicht nie mehr verlassen.
»Direktor Ming hat sich geirrt«, sagte der Oberst nun mit leiser, beherrschter Stimme. Die Soldaten wichen sofort zurück und gingen hinaus.
»Sie sind wegen Ihres Sohnes aus den Bergen hergekommen«, sagte Yao zu Shans Rücken.
Als Shan sich zum Tisch umdrehte, fielen ihm Lokeshs Worte wieder ein. Womöglich wurde in seinem Fall die innere Gottheit des Vaters auf ganz besondere Weise vervollständigt, indem man seinen Sohn dazu benutzte, ihn abschließend zu bestrafen. Sein Blick fiel erneut auf die schwarze Mappe. »Ich werde keine Tibeter hinter Gitter bringen«, wiederholte er, und seine Stimme war kaum lauter als ein Flüstern.
Yao entnahm der Tasche einen gelben Schnellhefter, der mehrere gefaxte Seiten enthielt. »Shan Ko Mei«, sagte er langsam und betont.
Der Name versetzte Shan einen Stich ins Herz. Seit mindestens sechs Jahren hatte er nicht mehr gehört, daß eine andere Stimme diese Worte aussprach. Er selbst hatte sie nur geflüstert, ganz selten, in Richtung der Sterne, wenn er nach Worten rang, um den Geist seines Vaters zu bitten, den Jungen zu behüten. Doch auch das lag schon sehr lange zurück. Für seinen Sohn war Shan tot. Der Name glich einer alten, dick vernarbten Wunde, und nun hatte jemand ein Messer hineingestoßen und drehte es.
Jemand berührte ihn am Arm. Shan zuckte zurück und gab ein Geräusch von sich, das wie ein Schluchzen klang.
»Setzen Sie sich«, sagte Corbett und deutete auf den Platz neben sich. »Sie sollten sich lieber setzen.«
Shan ließ sich auf den Stuhl fallen. Tan beäugte ihn mit verbissener Miene und zornigem Blick, aber auch mit einem gewissen Argwohn, als befürchte er, Shan wolle ihn für dumm verkaufen. Direktor Ming schaute weiterhin amüsiert in die Runde. Yao war verärgert und sichtlich ungeduldig. Der Amerikaner verschränkte die Hände und wirkte aufrichtig besorgt.
»Mein Sohn weiß nicht, wer ich bin«, sagte Shan.
Yao seufzte zufrieden auf, als würde Shans Äußerung bedeuten, daß sie nun endlich zum geschäftlichen Teil übergehenkonnten. Er breitete die Seiten aus dem gelben Schnellhefter vor sich aus. »Ein früher Opportunist«, las er vor. »Ein Dieb, Vandale, Zerstörer von Staatseigentum.«
Shan erkannte nun, worum es sich bei den Unterlagen handelte. Es war eine Akte der Öffentlichen Sicherheit, das Dossier eines Strafgefangenen, das mitunter vor anderen Leuten verlesen wurde, um den Betreffenden zu beschämen. Doch Yao irrte sich. Die Unterlagen bezogen sich nicht auf Shan. Die Verlesung der Strafakte eines besonders unrühmlichen Täters allein zur Einschüchterung eines anderen Delinquenten galt als eher primitive Verhörtechnik. Von Yao hätte Shan mehr erwartet.
Der Inspektor warf ihm einen zufriedenen Blick zu, legte das erste Blatt beiseite und fuhr fort. »Das war der Anfang. Später folgten mehrere Anklagen wegen
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