Der verlorene Sohn von Tibet
von hier. Bei Tagesanbruch sind wir auf einen Bach gestoßen, und am Morgen haben wir die Hänge nach den anderen abgesucht. Viele der Hirten waren auf dem Heimweg, hielten sich dabei aber wohlweislich fern von Zhoka. Dawa jedoch wollte nach Süden. Heute nachmittag haben wir Liya getroffen. Dawa sagt, wir sollen noch weiter nach Süden, und sie will immer wieder wissen, ob ich das Weinen gehört habe.«
»Das Weinen?« fragte Shan. »Hast du es denn gehört?«
Lokesh seufzte und sah ins Feuer. »Ich bin mir nicht sicher. Ich sagte, es könne doch Liya gewesen sein, die wir von weitem gehört haben. Als sie uns entgegenkam, sah sie nämlich aus, als hätte sie mehrere Tage geweint. Aber Dawa sagte nein.«
Langsam stand Shan auf und ging zum Rand des Lichtkreises, den das Feuer warf. Es dauerte einen Moment, bis er begriff, was ihn an Lokeshs Worten irritiert hatte. Liya. Lokesh und Dawa waren von Norden gekommen, Liya aus der entgegengesetzten Richtung, aus dem Süden, und zwar mit neuem Gepäck auf dem Rücken. Hier abseits der hellen Flammen sah Shan dunkle Umrisse, die sich schwarz vor dem Horizont abzeichneten. Die Berge wirkten wie geduckte Ungeheuer. Geh weiter, und du triffst auf Fleischzerleger und Blaumenschen, hatte der Hirte gewarnt.
Shan fing an, den anderen von seinen Erlebnissen in Lhadrung zu berichten. Er achtete dabei vor allem auf Liyas Gesicht, verschwieg aber, daß er von den Mantras wußte, die sie insgeheim an die Familien verteilt hatte. Ihre Augen waren dunkel umrandet und geschwollen. In der Tat, sie hatte geweint. »Hast du Angst, den Namen eines bestimmten Gottes auszusprechen?« fragte er sie unvermittelt.
»Ja«, räumte sie sofort ein. »Ich habe es während meines ganzen Lebens kein einziges Mal gewagt. Niemand hat das seit jenem Tag.«
»Aber jetzt kommen Fremde und erkundigen sich danach. Ich glaube, sie haben Surya gefragt, wie dieser Gott aussieht und wie man den Namen schreibt. Warum?«
»Man darf hier in den Hügeln nicht darüber reden.«
»Nicht einmal, um Surya zu helfen?«
»Auch Surya würde nicht wollen, daß …«
Auf dem Pfad oberhalb des Lagers knirschten ein paar Kiesel. Dawa stöhnte auf und drängte sich dichter an Lokesh. Jemand torkelte in den Feuerschein, fiel kopfüber auf einen Felsen zu und konnte den Sturz gerade noch mit beiden Händen abfedern.
»Heiliger Buddha!« murmelte Lokesh, nahm einen brennenden Ast, stieg über den Mann hinweg und ging auf den Pfad zu. Man hörte jemanden wegrennen.
Shan lief zu dem Fremden und half ihm, sich aufzusetzen. Die linke Gesichtshälfte des Mannes hatte sich grün und blau verfärbt. Aus dem Mundwinkel und mehreren kleinen Schnittwunden an seinen Wangen tröpfelte Blut. Am Hals verlief eine wesentlich breitere Blutspur, aber sie war bereits getrocknet und rissig.
Shan nahm sich ebenfalls eine provisorische Fackel und eilte zu Lokesh. Jemand hatte den Verletzten zu ihnen gebracht und dann die Flucht ergriffen. Shan fiel ein, daß er immer noch die Taschenlampe des Amerikaners bei sich trug. Er leuchtete damit den Hang ab.
»Oh«, sagte der Fremde, als er ihre furchtsamen Mienen registrierte, »macht euch keine Sorgen. Da ist niemand.« Seine Stimme war leise und zittrig, wenngleich auch irgendwie selbstsicher. Er stand auf, lehnte sich gegen einen Felsen und wandte das Gesicht vom Feuer ab, als schäme er sich seiner Verletzungen. Dann sah er Shan an. »Er hat dich erkannt und sich aus dem Staub gemacht.«
Als Liya mehr Holz ins Feuer warf und Lokesh anfing, die Wunden des Mannes mit einem Lappen abzutupfen, erkannteShan ihn plötzlich. »Geht es Surya gut?« fragte er besorgt. Es war der mürrische Bettler aus der Stadt, der Suryas Apfel genommen hatte. Der Spitzel. Abermals regte sich etwas am Rand des Lagers. Liya packte hastig ihre Sachen.
»Er hat nichts mehr gesagt, nur seine Mantras gebetet.« Der Mann schob Lokeshs Hand weg. »Und er wird immer kleiner.«
»Kleiner?« fragte Shan.
»Das passiert immer dann, wenn das Innere vertrocknet«, behauptete der Mann. »Meine Mutter kannte einen Kerl, der seine Frau ermordet hatte. Die Polizei hat nichts unternommen, aber er wurde kleiner und kleiner, und eines Tages hat er sich einfach in Luft aufgelöst.«
Dawa brachte eine Schale mit warmem Wasser. Lokesh befeuchtete den Lappen, und der Mann runzelte die Stirn. »Das ist nicht nötig. Ich könnte etwas zu essen gebrauchen.«
Shan holte etwas tsampa und hielt nach Liya Ausschau. Sie war verschwunden.
Als
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