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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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der Mann kurz darauf gierig seine Portion verschlang, hockte Shan sich neben ihn. »Wer hat dich in die Mangel genommen?«
    »Bist du Shan?« fragte der Mann.
    Shan nickte. »Wem hast du das zu verdanken?« Der Mann war nicht ernstlich verletzt. Es sah so aus, als habe man ihm ein paar kräftige Ohrfeigen verpaßt.
    »Schon in Ordnung. Das machen die Hirten immer, wenn sie mich erwischen.«
    »Jemand aus der Stadt hat dich geschickt«, argwöhnte Shan. »Einer der Offiziellen.«
    Der Mann nickte, rückte näher ans Feuer und starrte in die Flammen. »Ich muß denen behilflich sein. Mein Name ist Tashi.« Er klang, als sei das ein ganz normaler Job für ihn, als wäre es sein Schicksal, regelmäßig für die Behörden zu spionieren und genauso regelmäßig von anderen Tibetern dafür verprügelt zu werden.
    »Warum?« fragte Shan. »Warum mußt du?«
    »Meine Mutter ist alt und krank. Ich muß in der Nähe der Stadt bleiben, und ich wüßte nicht, wie ich sonst Geld verdienensollte, um ihr zu helfen. Früher habe ich in einer Fabrik gearbeitet. Nun mache ich etwas anderes.«
    Als er den Teller abstellte, sah Shan, daß an seiner Hand zwei Finger fehlten. »Du hast in Mings Auftrag Leute in die Berge geführt.«
    »Jetzt nicht mehr. Die sind sauer auf mich geworden, weil ich eine bestimmte Höhle nicht finden konnte.«
    »Eine Pilgerhöhle.«
    Tashi nickte.
    »Falls du sie gefunden hättest, was wäre dort passiert?«
    »Ich habe es bei anderen Fundstellen erlebt. Diese Leute sind Wissenschaftler und haben eigene Methoden. Zunächst verständigen sie Direktor Ming. Er muß die Stätte als erster betreten, denn er ist der größte Experte, wenn es um die Bewahrung von Altertümern geht.«
    »Was hat er denn in den Höhlen gemacht?« fragte Shan.
    »Einmal kam er mit einem alten Buch nach draußen. Ein anderes Mal war da bloß ein Buddha an die Wand gemalt, gleich neben einem heiligen Brunnen. Die Armee ist gekommen und hat mit einer Sprengung den Eingang versiegelt.«
    Shan warf Lokesh einen besorgten Blick zu. Ming wollte keine historischen Forschungen anstellen. Er suchte etwas ganz Bestimmtes, und dann sorgte er dafür, daß kein anderer die Stätten zu Gesicht bekam. »War Ming vorletzte Nacht in den Bergen unterwegs?«
    »Ja, zusammen mit der hübschen Rothaarigen. Punji. Ich helfe ihr, die kranken Kinder ausfindig zu machen. Und wenn sie nicht hinsieht, beobachte ich sie manchmal.« Tashi schien all seine Geheimnisse preisgeben zu wollen.
    »Warum hat Ming gestern eine Patrouille zum Turm geschickt? Und wieso hatte er es dann so eilig, Surya zu holen?«
    »Weil er in der Nacht zuvor keinen gefunden hat, ganz im Gegensatz zu jemand anderem, wie es hieß.« Tashi streckte den Teller aus und wollte noch mehr tsampa .
    Shan öffnete den Mund, um genauer nachzufragen, doch plötzlich wurde ihm von selbst alles klar. Bei dem zufälligen nächtlichen Zusammentreffen hatten Ming und McDowelldurch Liya erfahren, daß Mönche in Zhoka sein würden. Daraufhin hatten die beiden angenommen, eine andere Person habe Zugang zu den heiligen Männern und würde Surya oder einen anderen Mönch in irgendeiner Form benutzen. Shan erinnerte sich an Mings Reaktion auf den Zigarrenstummel. Der Direktor schien zu glauben, jemand mache ihm bei seinem Vorhaben Konkurrenz. Ein Wettstreit der Gottestöter.
    »Du bist wegen mir hier?« fragte Shan.
    Tashi nickte, schien in Gedanken aber abzuschweifen. »Ich verlasse die Stadt nicht gern, und ich hasse die Helikopter. Beim ersten Flug habe ich mir in die Hose gepinkelt. Ich hätte dich nie gefunden, wäre nicht dieser Hirte über mich hergefallen. Und dann auch noch mitten in der Nacht, so daß ich sein Gesicht nicht erkennen konnte. Er hat eingewilligt, mich zu dir zu bringen, und dafür mußte ich nur halb so viel Geld bezahlen, wie Ming mir mitgegeben hatte. Für mich ist heute ein echter Glückstag.« Er klang tatsächlich irgendwie fröhlich.
    Nun war es Shan, der in die Flammen starrte. Bei dem Mann handelte es sich nach eigenem Bekunden um einen Spitzel, doch er schien erleichtert zu sein, daß er die Identität des Hirten nicht weitermelden konnte. Er war mit dem Hubschrauber gelandet, den Shan gesehen und der Yao und den Amerikaner abgeholt hatte.
    »Hast du dem Hirten verraten, was du mir mitteilen sollst?« wollte Shan wissen.
    Tashi zuckte Achseln. »Sobald ich gefragt werde, verrate ich jedem alles. Auf diese Weise bleibe ich am Leben. Meine Mutter braucht mich. Er hat nicht

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