Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der verlorene Ursprung

Der verlorene Ursprung

Titel: Der verlorene Ursprung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
Vom Netzwerk:
innewohnenden magischen Kraft. Selbst die Incap Rünam hatten sich noch rudimentäre Erinnerungen an die Yatiri bewahrt und verehrten sie, als sie nach Taipikala kamen und es dem Tihuantinsuyu einverleibten.«
    An dieser Stelle endete der Singsang der Capacas. Eine der beiden alten Frauen sagte noch ein paar Worte, doch die verstand ich schon nicht mehr. Der Zauber, oder was auch immer es gewesen war, hatte sich verflüchtigt.
    »Den Rest der Geschichte«, übersetzte Marta die abschließenden Worte der Capacas, »kennt ihr.«
    Ich fühlte mich vollkommen ruhig, als hätte ich nicht auf diesem Hocker gesessen und einer Geschichte über die Zerstörung der Welt gelauscht, sondern daheim in meinem Wohnzimmer Musik gehört. Diese Menschen hatten etwas in meinem Kopf bewirkt, während sie uns von der Urmutter Oryana und all den anderen Dingen erzählten. Marc, Lola und ich, wir hatten irrtümlicherweise angenommen, wer nicht Aymara spreche, sei gegen seine eigenartige Wirkung gefeit. Das war ein Irrtum: Die Macht der Worte reichte bis weit über die Barriere der Sprache hinaus und schlich sich in deine Neuronen, egal, welche Sprache du beherrschtest.
    Wie Gertrude vermutet hatte, war das Aymara ein Vehikel der Macht, fast eine Programmiersprache wie im Bereich der Informatik. In dieser vollkommenen Sprache konnte man die Laute so kombinieren, daß sie einem das Gehirn umkrempelten. Das Aymara - oder Jaqui Aru - war die Tastatur, die es ermöglicht hatte, die perfekten Gehirne von Oryanas ersten Kindern zu programmieren und sie mit den lebensnotwendigen Mechanismen funktionstüchtig zu machen. Was auch immer diese Menschen mit meinem Gehirn angestellt hatten, es gestattete mir, eine ganze Reihe von Zusammenhängen zu erkennen, die mir sonst nie im Leben in den Sinn gekommen wären. Ein Haufen Ideen schoß mir durch den Kopf, jede anders, doch alle gleich verblüffend. Leider konnte ich sie in diesem Moment nicht den anderen mitteilen. Ich hatte einen unglaublichen Durchblick und das Gefühl, als spielten die Capacas regelrecht mit meinen Gedanken, indem sie mir neue Wege der Erkenntnis aufzeigten.
    Ähnliche Erfahrungen machten meine Freunde, und lange nachdem die Alten ihren Singsang beendet hatten, herrschte Schweigen. Wir konnten einfach nichts sagen. Wir hatten genug damit zu tun, den eigenen Gedanken nachzujagen. Im Singsang der Capacas waren wahrscheinlich Laute verborgen, die unsere Gehirne aufzurütteln vermochten, Worte, die sie hellwach machten. Vielleicht nutzten wir dazu statt der üblichen fünf Prozent vorübergehend sechs, oder zumindest fünfeinhalb Prozent unseres Potentials - und wir waren uns dessen bewußt. Erst da verstand ich, was Marta gemeint hatte, als ich ihr vorwarf, die Yatiri hätten sie manipuliert, damit sie einwilligte, die Entdeckung Qalamanas niemals zu erwähnen: Auch mich hatten die Capacas mit der Macht der Worte beeinflußt, und trotzdem hatte ich nicht das Gefühl, von fremden Gedanken oder Ideen beherrscht zu werden. Genau wie sie gesagt hatte, war ich nun hellwach und ruhig. Und was mir in den Kopf kam, waren meine ureigenen Gedanken. Ich war es, ich allein, der mein Gehirn eroberte. Ich erkannte jetzt, was Marta zuvor aufgegangen war, nämlich daß es falsch wäre, alles ans Licht der Öffentlichkeit zu zerren; Blitzlichter und Kameras nach Qalamana zu bringen oder, noch schlimmer, den Yatiri ihre Macht zu entreißen und sie Wissenschaftlern im Dienst bewaffneter Regierungen auszuliefern oder terroristischen Gruppen, von denen es in unserer Welt der wankenden Ideologien und Systeme offensichtlich nur so wimmelte.
    »Das heißt also«, flüsterte Lola und faßte sich mit den Händen an den Kopf, als müßte sie ihn stützen oder zusammenhalten, was in ihm war, »von einer eineinhalb Millionen Jahre dauernden Eiszeit ist nicht die Rede. Alles geschah in sehr kurzer Zeit . Deshalb tauchen im sibirischen Eis immer noch gefrorene Mammuts auf, so frisch, daß sie Generationen von Eskimos mit ihrem Fleisch ernährt haben.« 4
    Der Klang ihrer Stimme rüttelte uns auf. Auch wir anderen fanden langsam die Worte wieder.
    »Der reinste Wahnsinn«, stammelte Marc kopfschüttelnd, wohl um einen Gedanken loszuwerden, der ihm nicht zu behagen schien.
    »Ich glaube, uns allen geht zuviel durch den Kopf.« Ich stand schwerfällig auf und reckte Körper und Geist. Blitzartig wußte ich, was ich mit meinem Leben anfangen wollte, wenn ich erst wieder zu Hause in Barcelona wäre, an all den vertrauten

Weitere Kostenlose Bücher