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Der verlorene Ursprung

Der verlorene Ursprung

Titel: Der verlorene Ursprung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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weißer Haut und einem prächtigen Bart. Die weiße Haut konnte man sich natürlich auch nicht erklären, aber was die Forscher vollends ins Schwitzen brachte, war der Bart. Eins stand nämlich zweifelsfrei fest: Die amerikanischen Ureinwohner waren von jeher bartlos gewesen. Als Pizarro und seine Männer, trotz der Schmutzkruste hellhäutig und ganz gewiß bärtig, in Cajamarca auftauchten, muß das für die Menschen dort ein Schock gewesen sein, und sie hielten die Neuankömmlinge für Götter.
    Des weiteren rankten sich die Legenden in unzähligen Varianten um Viracochas Kinder Manco Capac und Mama Ocllo, die der Gott in den Norden gesandt haben sollte, um die Kultur der Inka zu verbreiten und dort Cuzco zu gründen, die Hauptstadt des Reichs. Allein die direkten Nachkommen jener Kinder von Viracocha waren die eigentlichen Inka, gewissermaßen Könige und Mitglieder der königlichen Familie. In ihren Adern floß das kostbare Sonnenblut, das um jeden Preis rein bleiben mußte, weshalb für gewöhnlich Geschwister untereinander heirateten. Die Herrscher und Aristokraten, Frauen wie Männer, wurden von den Spaniern »Orejones«, also Langohren, genannt, weil die Tradition vorschrieb, ihnen im Kindesalter die Ohrläppchen zu durchbohren, damit man sie von den übrigen gesellschaftlichen Ständen unterscheiden konnte. Die Löcher wurden mit Pflöcken geweitet, bis man große goldene Scheiben einsetzen konnte, die als Sonnensymbole die göttliche Abkunft und hohe Würde kenntlich machten.
    Je mehr ich über die Geschichte der Inka erfuhr und je besser ich die Ereignisse chronologisch einzuordnen wußte, desto differenzierter wurde das grobe Raster in meinem Kopf. Hätte ich ein großes Bild davon malen sollen, so wäre ich bereits in der Lage gewesen, die Szene in der richtigen Perspektive mit Kohle auf der Leinwand zu skizzieren. Allerdings fehlten mir noch die Farben, nach denen ich an diesem Tag nicht mehr würde suchen können; über dem rastlosen Lesen war es Abend geworden. Als der Computer mich um acht Uhr daran erinnerte, daß ich etwas essen und mich fertigmachen mußte, wurde ich abrupt in die Wirklichkeit zurückgeholt.
    Ich blinzelte verwirrt, blickte von den Büchern auf, und im Bruchteil von Sekunden fiel mir ein, daß ich nicht nur duschen, mich anziehen und etwas essen mußte, sondern daß Proxi und Jabba im >100< saßen und daß Ona mich in weniger als einer Stunde bei sich zu Hause erwartete. Da ich mit dem Weiterlesen nicht bis zum nächsten Tag warten wollte, holte ich mir einen zweiten Rucksack von der Garderobe am Eingang. Hastig stopfte ich die Bände hinein, vor deren Lektüre ich mich bisher gedrückt hatte. Aus verständlichen Gründen - sie sahen aus, als wären sie zäh zu lesen und schwerverdaulich: Die Neue Chronik und gute Regierung von Guamán Poma de Ayala - von dem Buch hatte Ona letzte Nacht gesprochen -, Wahrhaftige Kommentare von Inca Garcilaso de la Vega, La crónica del Perú von Pedro de Cieza de León und Suma y narración de los Incas von Juan de Betanzos. Der prallgefüllte Rucksack wog Tonnen.
    Während ich zu Abend aß, rief meine Mutter an, um zu fragen, wann wir denn kämen. Clifford fühlte sich offenbar nicht gut, und die beiden wollten bald nach Hause.
    »Deinem Bruder geht es einfach nicht besser«, sagte sie in einem Tonfall, in dem eine gewisse Besorgnis mitschwang.
    »Diego meint, wir müßten Geduld haben, man könne heute noch keine Besserung erwarten, aber Clifford hat das mitgenommen, und er hat einen seiner Migräneanfälle.«
    Von der Familie wagte zwar niemand, es laut auszusprechen, aber auffällig war es schon, daß Cliffords mörderische Migräneattacken ihn kurz nach der Hochzeit mit meiner Mutter erstmals überfallen hatten.
    »Wer ist Diego?« Ich vergaß zu kauen und schluckte ein ganzes Stück Seezunge hinunter, das ich mir in den Mund geschoben hatte.
    »Daniels Psychiater, Arnau! Du hörst auch nie zu, wenn es wichtig wird, mein Lieber.« Diesen Vorwurf machte sie mir dauernd, dabei konnte ich mir unmöglich all die Vornamen, Nachnamen und Familienstammbäume merken, die sie begeistert herbeten konnte, obwohl sie nun schon lange nicht mehr in Barcelona lebte. »Miquel war auch da ... Dr. Llor, an den wirst du dich wenigstens erinnern? Der Neurologe. Oh, was für ein reizender Mensch! Nicht, Clifford? Der Ärmste ... er kann gar nicht antworten, so schlimm ist sein Kopfweh! Aber, was ich sagen wollte, Miquel hat uns viele Fragen über dich gestellt

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