Der verlorene Ursprung
mir der Zentralrechner stumm Gesellschaft. Am Anfang hatte ich daran gedacht, ihm einen passenden Namen zu geben. Ihn zum Beispiel Hal zu nennen nach dem wahnsinnigen Rechner aus Stanley Kubricks 2001: Odyssee im Weltraum oder Abulafia nach dem armen Computerlein in Das Foucaultsche Pendel von Eco, ja, ich hatte sogar Johnny in Erwägung gezogen, wegen Vernetzt -Johnny Mnemonic. Am Ende konnte ich mich nicht entscheiden und gab ihm überhaupt keinen Namen. Wäre er ein Hund gewesen, hätte ich ihn einfach »Hund« genannt, aber es handelte sich nun mal um einen leistungsstarken Rechner, um eine künstliche Intelligenz. Deshalb legte ich schließlich fest, daß sich jede laut ausgesprochene Anweisung, die nicht eindeutig für Magdalena bestimmt war, an das System richtete.
Mein Blick schweifte melancholisch über die verführerische DVD-Sammlung und die Spielkonsolen, die verlassen auf dem kleinen Rattantisch standen, doch ich streckte die Hand nach dem Stapel Bücher aus, die ich aus der Wohnung meines Bruders mitgenommen hatte. Ich hatte das Studio so konzipiert, daß es der Kommandozentrale eines Raumschiffs so ähnlich wie möglich sah - ein weiteres Zugeständnis an meinen Spieltrieb. Wie in allen Wohnräumen des Hauses nahm auch hier ein Großbildschirm eine Wand ein. Sonst war das Studio ähnlich ausgestattet wie der >100<, allerdings mit nur drei Monitoren, zwei Tastaturen, einigen Aufnahmegeräten, zwei Druckern, einer Digitalkamera, einem Scanner, einem DVD-Player und meinen Konsolen. Alles in glänzendem Edelstahl oder makellos weiß, dazu Sitzmöbel, Tische und Regale aus Aluminium, Titan und Chrom. Die Halogenstrahler sorgten für ein hellblaues, frostiges Licht, so daß man sich vorkam wie in einer Eishöhle. Einzige Farbtupfer in diesem vermeintlichen Eisberg waren die Bücher auf den Borden und das niedrige Rattantischchen. Ich hatte es nicht übers Herz gebracht, mich davon zu trennen. Zumindest einen Teil meiner Bücher mußte ich um mich haben, und der Tisch war ein Erinnerungsstück aus meiner früheren Wohnung.
Mit einem resignierten Schnauben schlug ich den ersten von Daniels historischen Wälzern auf und begann zu lesen. Nach einer Weile nahm ich mir den zweiten vor und nach einer Stunde den nächsten. Um ehrlich zu sein, tat ich mich am Anfang schwer mit der Materie, obwohl ich nun wirklich nicht auf den Kopf gefallen bin. Aber die Historiker, von denen diese gelehrten Abhandlungen stammten, vermieden es, die Zeit in herkömmlicher Weise einzuteilen. Statt von Epochen sprachen sie von »Horizonten«: »Früher Horizont«, »Mittlerer Horizont«, »Später Horizont«, dazu die jeweiligen Zwischenperioden. Dadurch wurde es zumindest einem Laien wie mir unmöglich, das Gesagte einer bekannten historischen Epoche zuzuordnen. Als ich endlich eine Zeitachse mit Jahresangaben fand, stellte sich heraus, daß das Inkareich in seiner größten Ausdehnung kaum hundert Jahre bestanden hatte. Es war eines der mächtigsten der Welt gewesen, mit dreißig Millionen Einwohnern und einem Einflußgebiet, das von Kolumbien über Ecuador, Peru und Bolivien bis hinunter nach Argentinien und Chile reichte, als es einem erbärmlichen spanischen Heerhaufen von nicht einmal zweihundert Mann unter der Führung von Francisco Pizarro in die Hände fiel. Und dieser Abenteurer -man glaubt es kaum - konnte nicht einmal lesen und schreiben. In seinem Heimatdorf in der Extremadura hatte er Schweine gehütet, ehe er in jungen Jahren aufbrach, sein Glück zu suchen.
Als Kommandant einer aus mehreren Schiffen bestehenden Expedition war Pizarro im Jahr 1531 in Panama in See gestochen, dann die Pazifikküste entlang nach Süden gesegelt. Er hatte immer neues Land entdeckt und Siedlungen auf den Inseln und an den Küsten von Kolumbien und Ecuador gegründet. Außer den Ureinwohnern dieser Landstriche - das heißt außer den Indios - hatte kein Mensch je die Anden überquert. Und es sollte noch etliche Jahre dauern, bis die ersten Spanier es versuchten. Kein Europäer hatte sich durch die Urwälder am Amazonas gekämpft oder je einen Fuß nach Peru, Bolivien oder Feuerland gesetzt. Die Eroberung der Neuen Welt wurde im wesentlichen von der schmalen Taille des Kontinents aus vorangetrieben, also vom heutigen Panama aus, das damals »Tierra Firme« - Festland - genannt wurde. Als Pizarro in jenem fernen 16. Jahrhundert nach Süden vorstieß, segelte er dem geheimnisvollen, von Gold prallen Reich der Inka entgegen, von dem ihm die
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