Der verlorene Ursprung
die Unebenheiten. An jeder Ecke wiesen Schilder den Weg zu wenig erfreulichen Orten: »Chirurgie«, »Bestrahlung«, »Rehabilitation«, »Dialyse«, »Blutabnahme«, »Operationssaal«
. Und der typische Krankenhausgeruch verfolgte uns bis in den ächzenden Aufzug, in den wir uns mit fünfzehn oder zwanzig anderen zwängten. In Größe und Form erinnerte er stark an einen Frachtcontainer. Kaltes weißes Neonlicht, labyrinthische Gänge und Treppen, ausladende Türen mit rätselhaften Schildern (AOP, MRT, IPD), Menschen mit leerem Blick und vor Sorge angespannten oder schmerzverzerrten Zügen schritten in den Fluren auf und ab, als existierte die Zeit nicht mehr . Und tatsächlich schien die Zeit im Innern dieser Reparaturwerkstatt für Körper außer Kraft gesetzt, als hielte die Nähe des Todes die Uhren an, bis der Menschenmechaniker die Erlaubnis zum Weiterleben erteilte.
Ona ging entschlossen neben mir her, über der einen Schulter die Tasche mit Danis Sachen, auf dem Arm ihren fast zehn Kilo schweren Sohn. Erst vor kurzem war sie einundzwanzig geworden. Sie hatte meinen Bruder im ersten Semester in der Vorlesung »Einführung in die Anthropologie« kennengelernt, die er damals an der Fakultät hielt. Wenig später waren sie zusammengezogen. Aus Liebe, aber wohl auch, weil Mariona aus Montcorbau kam, einem Nest im Valle de Aran, und die beiden ihre Zweisamkeit nicht gern mit vier anderen Studenten aus Onas Heimatdorf teilen wollten, mit denen sie damals in einer WG lebte. Daniel hatte bei mir gewohnt. Eines Tages stand er mit dem Monitor seines Computers unter dem Arm, einem Rucksack über der Schulter und einem Koffer in der Hand in der Wohnzimmertür und verkündete mit leuchtenden Augen: »Ich ziehe mit Ona zusammen.« Die Augen meines Bruders haben eine erstaunliche Farbe, ein intensives Violett, das man nicht häufig sieht. Offenbar hat er sie von seiner Großmutter väterlicherseits geerbt, von Cliffords Mutter also. Er war immens stolz darauf und entsprechend enttäuscht, als die Augen seines Sohnes Dani nach der Geburt heller und heller wurden, bis sie schlicht blau blieben. Meine Augen waren dunkelbraun wie starker Kaffee und mein Haar ebenfalls, deutliche Zeichen der unterschiedlichen Genpools, aus denen wir stammten; aber sonst sahen wir uns ziemlich ähnlich.
»Schön für dich«, war alles, was ich an jenem Tag zu Daniel gesagt hatte. Und: »Viel Glück.«
Nicht, daß mein Bruder und ich uns schlecht verstanden hätten. Ganz im Gegenteil, wir waren einander so nah, wie es zwei Brüder nur sein können, die sich mögen und die praktisch als Einzelkinder aufgewachsen sind. Doch als Söhne von Eulalia Sane (früher die geschwätzigste Frau Kataloniens und seit fünfundzwanzig Jahren die geschwätzigste Englands) waren wir notgedrungen schweigsam geworden. Natürlich, man lernt im Leben dazu, macht Erfahrungen und wird reifer, aber man ändert sich nicht wirklich. Man ist eben in jedem Moment der, der man ist.
Mein Vater starb 1972, als ich fünf Jahre alt war, hatte jedoch schon lange zuvor kaum mehr das Bett verlassen. Mir ist nur noch ein Bild von ihm in Erinnerung: wie er im Sessel sitzt und mich mit der Hand zu sich winkt. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob ich das wirklich so erlebt habe. Kurz nach seinem Tod heiratete meine Mutter Clifford Cornwall, und zwei Jahre später, als ich gerade sieben geworden war, kam mein Bruder zur Welt. Sie nannten ihn Daniel, weil es den Namen in beiden Sprachen gab, auch wenn wir ihn immer englisch betonten und nicht wie im Spanischen auf dem »e«. Cliffords Arbeit beim Foreign Office zwang ihn dazu, ständig zwischen London und Barcelona zu pendeln, wo das Generalkonsulat seinen Sitz hatte. Und so blieben wir wohnen, wo wir immer gewohnt hatten, während er kam und ging. Meine Mutter wiederum pflegte ihre Freundschaften und gesellschaftlichen Kontakte. Sie war weiter die Muse - oder bildete sich das zumindest ein - für den großen Kreis ehemaliger Kollegen meines Vaters an der Universität, wo er mehr als zwanzig Jahre eine Professur für Metaphysik innegehabt hatte (er war schon recht alt gewesen, als er meine Mutter in seinem Heimatort auf Mallorca heiratete).
Daniel und ich verlebten eine recht einsame Kindheit. Hin und wieder wurden wir für ein paar Monate nach Vie zu unserer Großmutter geschickt, bis meine Schulnoten ins Bodenlose abrutschten, weil ich so oft im Unterricht fehlte. Man meldete mich als Internatsschüler im La Salle an, und
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