Der verlorene Ursprung
können.
»Der Arzt hat eine halbe Stunde gebraucht, bis er da war«, erzählte sie schluchzend weiter. »Daniel hat in der ganzen Zeit nur zweimal die Augen aufgemacht und auch nur, um wieder zu sagen, er sei tot und wolle, daß ich ihm ein Leichenhemd anziehe und ihn begrabe. Ich habe ihn gegen die Lehne gedrückt, damit er nicht nach vorn sackt, und wie eine Blöde auf ihn eingeredet, ihm erklärt, daß sein Herz schlägt und daß er warm ist und daß er normal atmet, und er hat nur geantwortet, das würde alles nichts heißen, weil er unbestreitbar tot sei.«
»Er hat den Verstand verloren ...« Ich starrte auf die Spitzen meiner Turnschuhe.
»Das ist noch nicht alles. Dem Arzt hat er dasselbe gesagt und dann noch behauptet, daß er nichts fühlt, nichts riecht, nichts schmeckt, weil sein Körper ein Leichnam sei. Da hat der Arzt eine Spritze aus seinem Koffer geholt und ihm ganz leicht, weil er ihm ja nicht weh tun wollte, in die Fingerspitze gestochen.« Ona hielt einen Moment inne, dann griff sie nach meinem Unterarm, um sicherzugehen, daß ich genau zuhörte. »Du glaubst das nicht: Am Ende hat er ihm an ein paar Stellen die Nadel bis zum Anschlag ins Fleisch gejagt, und . Daniel hat nicht mal gezuckt!«
Ich muß ein Gesicht gemacht haben wie ein Vollidiot, denn wenn es eines gab, was mein Bruder nicht ertragen konnte, dann waren das Spritzen. Für ihn ging die Welt schon beim Anblick einer Nadel unter.
»Der Arzt hat dann entschieden, einen Krankenwagen zu rufen und ihn hierherzubringen. Er fand, das müsse sich ein Neurologe ansehen. Ich habe Dani angezogen, und wir sind hergefahren. Sie haben Daniel mit hineingenommen, und ich bin mit dem Kleinen im Wartezimmer geblieben, bis eine Krankenschwester mir sagte, ich solle auf der Station hier oben warten. Sie hätten ihn in die Neurologie eingeliefert, und der Arzt werde nach der Untersuchung mit mir reden. Ich habe überall versucht, dich zu erreichen. Da fällt mir ein ...« Nachdenklich wiegte sie den Kleinen auf ihrem Schoß, obwohl der sich zappelnd sträubte. »Wir sollten deine Mutter und Clifford anrufen.«
Das Problem war nicht, die beiden anzurufen. Das Problem war, wie ich an mein Handy kommen sollte, ohne daß mein Neffe in markerschütterndes Geschrei ausbrach. Ich versuchte deshalb eine vorsichtige Annäherung, indem ich mit dem Autoschlüssel vor seinem Gesicht wedelte, bis ich merkte, daß weder er noch Ona auf mich achteten, weil beide etwas hinter meinem Rücken anstarrten. Zwei Typen mit Leichenbittermiene kamen auf uns zu. Bei einem der beiden, dem älteren, lugte unter dem weißen Kittel Straßenkleidung hervor. Der andere, der winzig war und eine Brille trug, hatte die komplette Montur an, weiße Clogs inklusive.
»Sind Sie Angehörige von Daniel Cornwall?« Er sprach den Namen meines Bruders mit tadellos britischem Akzent aus.
»Sie ist seine Frau«, sagte ich und stand auf. Der ältere der beiden reichte mir jetzt bis zur Schulter, den anderen verlor ich vollkommen aus den Augen. »Und ich bin sein Bruder.«
»Schön, schön ...«, sagte der Ältere hastig und verbarg die Hände in den Taschen des Kittels. Fast war es, als wollte er sie in Unschuld waschen, und das gefiel mir überhaupt nicht. »Ich bin Dr. Llor, der Neurologe, der Señor Cornwall untersucht hat, und das ist Dr. Hernández, der Psychiater, der heute Notdienst hat.« Er zog die rechte Hand wieder aus der Tasche, aber nicht, um sie uns zu reichen, sondern um uns den Weg in die Station zu weisen. Vielleicht hatte er etwas gegen mein Äußeres, gegen den Ohrring, das Kinnbärtchen und den Pferdeschwanz; oder er fand Onas orangerote Haarsträhne affig.
»Wenn Sie so freundlich wären, einen Moment mit in mein Büro zu kommen, dort können wir ungestört reden.«
Dr. Llor trat ohne Eile neben mich und überließ es dem jungen Dr. Hernández, uns mit Ona und Dani in einigen Schritten Abstand zu folgen. Die ganze Situation kam mir unwirklich vor, irgendwie falsch, virtuell.
»Ihr Bruder, Señor Cornwall ...«:, setzte Dr. Llor an.
»Ich heiße Queralt, nicht Cornwall.«
Der Arzt musterte mich aus zusammengekniffenen Augen.
»Sagten Sie nicht, Sie sind sein Bruder?« knurrte er, als habe man ihn mutwillig belogen und als vertue er nun seine überaus kostbare Zeit mit einem Schwindler.
»Ich heiße Arnau Queralt Sañé, und mein Bruder heißt Daniel Cornwall Sañé. Möchten Sie sonst noch etwas wissen?«
Was sollte dieser alberne Argwohn? Als gäbe es auf der
Weitere Kostenlose Bücher