Der verlorene Ursprung
umher, außerdem eine Schülergruppe in Begleitung ihres Lehrers, die in unserer Nähe einen Höllenlärm veranstaltete. Daß die Anlage so menschenleer war, vergrößerte meine Angst vor einer Begegnung mit der Doctora. Wenn diese Frau in Bolivien wirklich so gute Beziehungen hatte, brauchte sie uns nur bei der Polizei wegen Diebstahls archäologischer Stücke anzuzeigen. So könnte sie uns kurzerhand aus dem Weg räumen und verhindern, daß wir vor ihr in die Kammer gelangten. Ihr Wort stünde dann gegen das unsere.
Wir stiegen bedächtig die große Freitreppe der Kalasasaya-Anlage hinauf, und nach und nach tauchte vor unseren Augen eine vertraute majestätische Gestalt auf: der Ponce-Monolith, so benannt nach seinem Entdecker, dem Archäologen Carlos Ponce Sanjines. Doch trotz seiner imposanten Erscheinung, die den weiten, freien Platz der Kalasasaya-Anlage zu beherrschen schien, wanderten unsere Blicke und Schritte automatisch und zielstrebig weiter, dem am entfernten Ende des Platzes gelegenen Tempel entgegen, wo sich unverkennbar das Sonnentor erhob. Hier hatte die Geschichte für uns ihren Anfang genommen, mit den Reliefs auf diesem Tor und der von Daniel eingezeichneten dreistufigen Pyramide, auf der der Zeptergott thronte. Mir schnürte sich auf einmal die Kehle zu. Wie hätte mein Bruder es genossen zu erleben, wie seine Vorstellungen Wirklichkeit wurden und die Bestätigung seiner Entdeckungen in greifbare Nähe rückte! Ich konnte ihn förmlich neben mir spüren, schweigsam, ruhig, aber mit einem breiten, zufriedenen Lächeln auf dem Gesicht. Er hatte geschuftet wie ein Sklave, um dem Geheimnis der Yatiri auf die Spur zu kommen. Und gerade als er im Begriff war, es zu lüften, war er zum Gefangenen seiner eigenen Entdeckungen geworden. Eines Tages, wenn er wieder gesund war, würde ich diese Reise noch einmal gemeinsam mit ihm machen.
Wir gingen auf das große Tor zu, und es war, je näher wir ihm kamen, als würden wir von einer Art magnetischem Feld angezogen, das ebenso stark zu sein schien wie die Gravitation.
Der Anblick der sich vor dem Himmel abzeichnenden Silhouette ließ mich zurückdenken an den Abend vor unserer Reise. Nachdem ich Nuria gebeten hatte, Flug und Hotel für uns zu buchen, war uns noch etwas Zeit bis zum Abendessen geblieben. Danach wollten Jabba und Proxi nach Hause, um ihre Sachen zu packen. Also arbeiteten wir weiter und suchten nach zusätzlichen Informationen über das Tor, den einzigen Ort Tiahuanacos, den wir noch näher erkunden mußten. Marc suchte nach Bildern und druckte sie aus, Lola fahndete nach dem mysteriösen Zeptergott, und ich ordnete das bereits vorhandene Material.
Von der Doctora wußte ich, daß das Tor über dreizehn Tonnen wog, was die entsprechenden Internetseiten bestätigten. Die Maße wurden allerdings unterschiedlich beziffert, wenn auch in den meisten Fällen mit drei Meter Höhe und vier Meter Breite. Über die Tiefe fand ich keine widersprüchlichen Angaben, alle sprachen von einem halben Meter.
Das Sonnentor war in gewisser Weise ein Durchgang vom Nirgendwo ins Nichts. Über seinen ursprünglichen Standort wurde spekuliert, niemand schien zu wissen, woher es wirklich stammte. Die einen erkannten in ihm - aufgrund einer entfernten Ähnlichkeit - das fehlende vierte Tor des Puma-Punku-Tempels, andere betrachteten es als Teil eines verschwundenen Monuments. Wieder andere meinten, es gehöre zur Akapana-Pyramide . Niemand wußte etwas Genaueres. Dabei war das eigentlich Rätselhafte die Frage, wie ein dreizehn Tonnen schwerer Stein von seinem ursprünglichen Standort fortbewegt und kopfüber an seinen heutigen Platz in der Anlage von Kalasasaya gekippt werden konnte. Das Monument wies einen breiten, tiefen Riß auf, der von der rechten oberen Ecke der Toröffnung schräg nach oben verlief und den Fries spaltete. Der Legende nach hatte ein Blitzeinschlag diesen Schaden verursacht. Gewiß waren Gewitter auf der Hochebene keine Seltenheit, doch ein solches Phänomen hätte einem Monolithen aus härtestem Trachyt schwerlich einen derartigen Riß zufügen können. Es war eher zu vermuten, daß er beim Umkippen beschädigt worden war, aber eindeutig nachweisen konnte man auch das nicht.
In die Rückseite des Tores waren so perfekt gestaltete Nischen und Gesimse gefügt, daß man sich verwundert fragte, wie sie ohne die Hilfe moderner Maschinen hatten ausgearbeitet werden können. Das gleiche galt für den Fries auf der Hauptfassade mit seinem genau in
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