Der verlorene Ursprung
kopfüber die Treppe hinunterwerfen.
»Na gut, lassen wir den Tourismus. Aber ich warne dich, wir machen uns allmählich lächerlich.«
An einer Bushaltestelle, wie die Bolivianer die improvisierten Haltepunkte der alten Lieferwagen oder movilidades nannten, die für den städtischen Personentransport eingesetzt wurden, stießen wir auf ein kleines Touristenbüro und nahmen einen Stadtplan und ein paar Broschüren mit. Doch schon nach einem kurzen Blick merkten wir, daß der Plan uns wenig nützte, da es keine Straßenschilder gab. Auch informierten die Broschüren kaum über das, was um die nächste Straßenecke lag, geschweige denn über so notwendige Dinge wie ein gutes Restaurant, in dem man zu Mittag oder zu Abend essen konnte. Immerhin beschrieb ein Artikel den sogenannten Hexenmarkt, auf dem wir eben gewesen waren und wo die Yatiri - laut Broschüre »das Aymara-Wort für Heilkundige« - traditionelle Heilmittel und Glücksbringer verkauften. Wir beschlossen, nicht zu verzagen und noch eine Weile durch das Labyrinth der gepflasterten Gassen mit den Häusern im unverwechselbaren Kolonialstil zu schlendern, vorbei an eleganten Stadthäusern und im Andenbarock erbauten Kirchen voller eigenartiger, heidnisch anmutender Inka-Motive.
In der Bar des alten Hotels Paris, das an einer Ecke der Plaza Murillo lag, aßen wir schließlich zu Abend. Wir verschlangen blindlings alles, was uns serviert wurde - und das war eine Menge und äußerst scharf. Als erstes aßen wir eine Suppe mit Mais, Maniok und Quinoa, die nicht besser hätte sein können. Weiter ging es mit einem aus Kartoffeln, Bohnen und Käse bestehenden sogenannten Paceño und einer Fleisch-Jakhonta, die Proxi und ich nur noch mit Mühe probieren konnten. Jabba hingegen, der inzwischen vollkommen wiederhergestellt war und einen Dreitagehunger mitgebracht hatte, vertilgte sie vollständig und mühelos. Die mesera - wie hier die Kellnerinnen hießen (die Kellner waren die garsones) - stellte sich uns als Mayerlin vor und empfahl uns den Besuch eines unweit vom Restaurant in der Calle Jaén gelegenen Nachtlokals namens La Naira. Dort könnten wir uns noch ein Täßchen Mate genehmigen und vor dem Schlafengehen Enriqueta Ulloa, eine berühmte Aymara-Sängerin, sowie die Gruppe Llapaku anhören: Andenfolklore vom Feinsten.
Die Straßen waren auch um diese Uhrzeit noch von lautem Stimmengewirr, einem Gemisch aus Spanisch und Aymara, erfüllt. Grell stach das Geschrei der fahrkartenverkaufenden Kinder daraus hervor, die die langen Fahrtrouten aufsagten. Dabei hielten sie sich an den ausgeleierten Türen der Fahrzeuge fest, aus denen sie gefährlich weit heraushingen, was aber niemanden weiter zu beunruhigen schien. Die Händler auf den kleinen volkstümlichen Märkten, die wir zuvor durchstreift hatten, machten sich gerade auf den Heimweg, mit dicken Säcken auf dem Rücken, die gut und gerne zwei-, dreimal so schwer waren wie ihre Träger. Eine sonderbare Welt war das, in der keiner pausenlos mit dem Handy telefonierte oder durch die Gegend hetzte noch den Blick abwandte, wenn dieser zufällig den eines anderen traf. Nein, hier schauten die Menschen einem fest in die Augen und lächelten, was einen verunsicherte, ja, regelrecht verlegen machte. Nicht immer stellt das, was wir zu sehen bekommen, die größte Überraschung dar, möge es sich noch so sehr von der gewohnten Umgebung unterscheiden. Manchmal zählt mehr, was man unbewußt mit den anderen vier Sinnen aufnimmt. Jedenfalls vermittelte uns alles um uns herum, daß wir in einer anderen Welt waren, in einer anderen Dimension.
Im überfüllten Nachtklub La Naira lauschten wir in stickiger Atmosphäre der wunderschönen Musik, die Llapaku auf typischen Andeninstrumenten spielte (dem Charango, der aus zwei Schilfrohren bestehenden Siku-Flöte und Trommeln) und genossen Enriqueta Ulloas wirklich erstaunliche, vibrierende und obertonreiche Stimme. Wir bedauerten, nicht lange bleiben zu können, da wir vorhatten, am nächsten Tag früh aufzustehen.
Doch wir kehrten beschwingt und energiegeladen in unser Hotel zurück, bereit für alles, was uns erwartete.
Dem Ratschlag des Geschäftsführers unseres Hotels folgend, standen wir um sechs Uhr morgens auf (es war noch stockdunkel), um gegen sieben Uhr fertig zu sein und ein Taxi nach Tiahuanaco zu nehmen. Die Taxis in La Paz haben den Nachteil, daß es sich um Gemeinschaftstaxis handelt, die sozusagen als Mini-Busse fungieren. Will man ohne fremde Begleitung
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