Der verlorene Ursprung
ruinenbedeckte Weiten. Vor uns schlängelte sich ein Weg zum Templete, der zunächst nichts war als ein großes, viereckiges Loch im Erdboden. Rechts daneben lag die erhöhte Plattform des Kalasasaya-Tempels. Die über fünf Meter hohen und hundert Tonnen schweren Steinblöcke der weitläufigen Kultstätte waren trotz der Entfernung gut zu erkennen. Hier war alles riesig und strotzte vor Größe und Energie, und selbst das überall wuchernde Unkraut nahm dem Ort nichts von dieser Herrlichkeit.
»Ich glaub, ich hab Halluzinationen«, murmelte meine Lieblingssöldnerin, während wir auf den halb unterirdischen Tempel zugingen. »Ich sehe die Yatiri regelrecht vor mir.«
»Da bist du nicht die einzige«, flüsterte ich.
Wortlos liefen wir durch den in etwa zwei Meter Tiefe gelegenen Templete und schauten uns die seltsamen, aus der Wand ragenden Nagelköpfe an.
Jabba war der erste, dem etwas Merkwürdiges auffiel: »He, Leute! Ist das hier nicht der Kopf eines Chinesen?«
»Ach, komm schon!« spottete Proxi und starrte neugierig in die angegebene Richtung.
Und tatsächlich, der Kopf mit den eindeutig schrägen Augen war unbestreitbar der eines Menschen aus Fernost. Zwei oder drei Köpfe höher saß ein anderer mit den unverwechselbaren Zügen eines Afrikaners: breite Nase, ausgeprägte Lippen ... Nachdem wir die Mauer in beide Richtungen abgelaufen waren und uns oben wie unten sämtliche Köpfe angeschaut hatten, stand für uns fest, daß unter den hundertfünfundsiebzig Köpfen, die das am Eingang erstandene Begleitheft erwähnte, alle Rassen der Welt mit ihren typischen Gesichtszügen vertreten waren: vorspringende Wangenknochen, dünne und dicke Lippen, breite und schmale Stirnpartien, vorstehende Augen, runde Augen, Schlitzaugen, tiefliegende Augen .
»Was sagt das Heft dazu?« wollte ich wissen.
»Es gibt gleich mehrere Erklärungen«, erwiderte Proxi, die es an sich genommen hatte. »Einerseits vermutet man, die Krieger aus Tiahuanaco hätten die Angewohnheit gehabt, nach kriegerischen Auseinandersetzungen die abgeschlagenen Köpfe ihrer Feinde hier zur Schau zu stellen. Im Lauf der Zeit sollen sie dann in Stein gehauen worden sein, um sie zu verewigen. Andererseits heißt es, dieser Ort sei möglicherweise eine Art medizinische Lehranstalt gewesen, in der vermittelt wurde, wie man bestimmte Krankheiten diagnostiziert. Diese Krankheiten könnten in den verschiedenen Gesichtern abgebildet sein. Tja, da sich aber weder das eine noch das andere nachprüfen ließe, bewiesen die Nagelköpfe höchstwahrscheinlich nur, daß Tiahuanaco mit den verschiedenen Kulturen und Rassen der Welt in Berührung gekommen ist.«
»Mit Schwarzen und Chinesen?« fragte Jabba verwundert.
»Darüber steht hier nichts.«
»Lieber Junge . « Ich legte meinem Freund väterlich eine Hand auf die Schulter. »Niemand hat auch nur den blassesten Schimmer, was es mit dieser geheimnisvollen Stadt auf sich hat, also ist immer derjenige der Dumme, der die neueste Version der Geschichte präsentiert. Aber, was soll’s. Basteln wir uns einfach unsere eigene.« Ein Jammer, dachte ich, daß der bolivianische Staat nicht genug Geld besaß, um in Tiahuanaco gründliche Ausgrabungen vornehmen zu lassen. Und eine Schande, daß die internationalen Organisationen nicht die nötigen Mittel bereitstellten, um dem Land bei dieser Aufgabe zu helfen. War denn niemand daran interessiert herauszufinden, was es mit dieser merkwürdigen Stadt auf sich hatte?
»Und der Typ hier mit dem Bart?« Jabba wies auf eine der drei steinernen Grabsäulen, die in der Mitte der Tempelanlage emporragten. Sie war die größte der drei und zeigte das in Stein gemeißelte Abbild eines Mannes mit riesigen runden Augen, dickem Schnurrbart und einem hübschen Spitzbärtchen. Er trug einen langen Umhang, und rechts und links neben ihm waren zwei vom Boden bis zu seinen Schultern reichende Schlangensilhouetten abgebildet.
»Im Führer steht, es handele sich um einen König oder Hohenpriester.«
»Es lebe die Phantasie! Können die nicht mal eine andere Platte auflegen? Allmählich wird es langweilig.«
»Da steht noch, daß diese Schlangen neben ihm in der Tiahuanaco-Kultur Wissen und Weisheit symbolisiert hätten.«
»Aha, das ist also die Bedeutung dieses gehörnten Reptils in der Kammer von Lakaqullu.«
»Los, weiter«, befahl ich und näherte mich der Treppe, um zur Kalasasaya-Anlage hinüberzugehen. Außer uns liefen nur einige wenige vereinzelte Besucher in den Ruinen
Weitere Kostenlose Bücher